09 Vorgehen

Wie gehen sexualisiert-übergriffige Kinder und Jugendlichen vor?

Aus der Arbeit mit Erwachsenen, die Kinder sexuell missbraucht haben, ist bekannt, dass sexualisierte Gewalt nicht zufällig geschieht, sondern geplant wird. Sexualisierte Gewalt ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht impulsiv gesteuert, sondern es laufen zuvor Entscheidungsprozesse ab. Wie David Finkelhor 45 treffend in seinem „Modell der vier Voraussetzungen“ dargelegt hat, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit sexualisierte Gewalt ausgeübt werden kann.

Vier Voraussetzungen sexualisierter Gewalt nach David Finkelhor

Zunächst muss ein Mensch in irgendeiner Form dazu motiviert sein, ein Kind sexuell zu missbrauchen. Das bedeutet, dass es bestimmte Bedürfnisse gibt, die hinter dem Verhalten stehen und die (scheinbar) nicht anders befriedigt werden können. Bei jungen Menschen sind es häufig Bedürfnisse nach Intimität, Sexualität, Nähe – in Wechselwirkung mit Machtbedürfnissen. In einem nächsten Schritt müssen innere Hemmungen überwunden werden – auch Kinder und Jugendliche wissen in den meisten Fällen sehr wohl, dass sie solche Handlungen nicht ausführen dürfen. Sie wissen, dass sie etwas Verbotenes tun. Diese Gedanken müssen sie wegschieben.
Sie müssen darüber hinaus, als dritte Voraussetzung, auch äußere Hemmfaktoren, wie zum Beispiel die Beaufsichtigung der Geschwister durch die Eltern, überwinden. Sie schaffen beispielsweise gezielt Gelegenheiten, in denen sie jüngere Geschwister als Babysitter:innen beaufsichtigen können oder sie manipulieren die Eltern, indem sie ihre Geschwister bewusst als unglaubwürdig darstellen, damit ihnen im Falle einer Offenlegung nicht geglaubt wird. Als vierte Voraussetzung müssen sie auch den kindlichen Widerstand überwinden, zum Beispiel durch Belohnungen (gemeinsames Spiel, Aufmerksamkeit), Drohungen oder Gewalt. Es laufen also viele gedankliche Prozesse ab. Das Verhalten wird bewusst gewählt und geschieht nicht zufällig oder spontan, unüberlegt oder impulsiv. Aussagen wie „Es ist einfach so passiert.“, „Es ist plötzlich dazu gekommen.“ dienen als Versuch der Rechtfertigung und werden später in der Arbeit mit den sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen aufgegriffen und reflektiert. Der Prozess, in dem die Entscheidung für die Ausübung sexualisiert-übergriffigen Verhaltens getroffen wird, sollte später zum Gegenstand der Therapie werden. 46

Erwachsene, die Kinder sexuell missbrauchen, unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht deutlich von Kindern und Jugendlichen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen, sei es in Bezug auf die Reife und Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme, den Einfluss des familiären Umfeldes aufs eigene Handeln, die Motivation für die Verhaltensweisen oder die Rückfallgefährdung (junge Menschen sind effektiver behandelbar), usw.. Kinder und Jugendliche stehen noch am Anfang ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Sie sind auf der Suche nach ihrer Identität und sie testen Grenzen in vielerlei Hinsicht aus – das gehört zum Erwachsenenwerden immer auch ein stückweit dazu. Erst im Alter von etwa 25 Jahren ist die Gehirnentwicklung weitestgehend abgeschlossen. Vorher scheinen junge Menschen weniger über die Konsequenzen ihres Handelns nachzudenken. Jugendliche und Heranwachsende haben nicht die gleichen kognitiven Fähigkeiten wie Erwachsene. 47

Die besondere Schutzbedürftigkeit von jungen Menschen darf jedoch nicht dazu führen, dass ihr Handeln und deren Auswirkungen bagatellisiert werden. Auch bei jungen Menschen, besonders bei Jugendlichen und auch schon bei Kindern sind strategische Vorgehensweisen erkennbar, die denen Erwachsener ähneln. Auch sie wenden ein bestimmtes Vorgehen an, manipulieren unterlegene Geschwister, um ihre Ziele zu erreichen.

Targeting & Grooming

Der englischsprachige Begriff „Targeting“ beschreibt die Phase der Opferauswahl und die Planung erster sexualisierter Übergriffe. Auch Geschwister überlegen, welche Schwester/n, welcher Bruder/welche Brüder sich gut als „Opfer“ eignen und bei wem ein geringes Aufdeckungsrisiko besteht. In meiner Studie mit Jugendlichen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten an Geschwistern gezeigt hatten, berichteten alle 13 Interviewteilnehmer davon, selbst strategisch vorgegangen zu sein, auch bereits mit Beginn im Kindesalter. Sieben von 13 Jungen waren jünger als 10 Jahre als sie erstmals sexualisiert-übergriffige Handlungen an Geschwistern ausgeführt haben.

Zitat eines sexualisiert-übergriffigen Jugendlichen:
„Vorher hab` ich schon diese Tat geplant. Ob ich das mache oder nicht. Da hab` ich mich dafür entschieden, dass ich es mach`, ja und ich wusste schon, was passiert, wenn ich das mach`.“

In den Interviews wurde davon berichtet, dass bewusst Geschwister ausgewählt wurden, die emotional besonders bedürftig und/oder leicht zu manipulieren waren. Oder aber es wurde ein junges Geschwisterkind ausgewählt, zu dem ein großer Alters- und Machtunterschied bestand und das aufgrund des jungen Alterns nicht in der Lage war, die sexualisierte Gewalt als solche zu begreifen und zu versprachlichen. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass die Forschung längst gezeigt hat, dass für Menschen mit einer Beeinträchtigung/Behinderung ein vielfach erhöhtes Risiko besteht, sexualisierte Gewalt zu erfahren.

Nach der „Targeting“ Phase schließt sich die „Grooming-Phase“ an, in der eine erhöhte emotionale Zuwendung erfolgt, um eine besondere Nähe zum potentiellen „Opfer“ aufzubauen. Betroffene Geschwister fühlen sich besonders geschmeichelt und die Beziehung intensiviert sich. Besonders in Familien, in denen die Eltern emotional abwesend sind, haben es die sexualisiert-übergriffigen Geschwister leicht, denn häufig besteht bereits eine enge Bindung und eine besondere Nähe zwischen den Geschwistern.

Strategien sexualisiert-übergriffiger junger Menschen

Viele Jugendlichen berichteten davon, dass sie vor dem ersten sexualisierten Übergriff in ihrer Fantasie durchgespielt haben, wie sie vorgehen. Sie wussten, dass sie etwas Verbotenes tun und, dass ihre Geschwister kein Interesse an diesen sexuellen Verhaltensweisen haben. Um die Handlungen trotzdem durchzusetzen, gingen sie unterschiedlich vor. Viele haben die Handlungen in ein Kinderspiel eingebettet.

  • Einbettung der Handlungen in ein Kinderspiel. („Wahrheit oder Pflicht“, Doktor-Spiel, Mutter-Vater-Kind, Verstecken im Dunkeln)
  • Belohnung: Süßigkeiten, Computerspiel, Spielzeug, gemeinsame Zeit
  • Drohungen: Schläge, „Ich bringe Dich um.“, „Wir kommen ins Heim, wenn Du das erzählst.“ etc.
  • Einsatz körperlicher Gewalt: Schläge, Einsatz von Waffen (Messer), etc.
  • Vortäuschung falscher sexueller Normen: „Das machen alle so, wenn sie sich liebhaben.“

Körperliche Gewalt wird oft dann eingesetzt, wenn andere Strategien nicht mehr ausreichen, wie die nachfolgenden Beispiele verdeutlicht:

Zwei Jugendliche äußerten sich in Interviews wie folgt:
„Ja, am Anfang war es ja so – also wie soll man das sagen? Ja, ich will jetzt nicht sagen willig oder so, ne? Also das hört sich `n bisschen doof an, aber am Anfang dachten sie wahrscheinlich, das ist nichts Schlimmes, aber dann als die ganzen Handlungen halt intensiver wurden, so mit halt versuchtem Geschlechtsverkehr und so dann ist es ja auch mit Schmerzen halt verbunden und dadurch haben sie sich auch gewehrt so auch irgendwie: `JA, und geh weg‘ oder halt wegschubsen oder so, dann habe ich die auch halt festgehalten.“

„Ja und dann hab ich das n paar Mal mit N. gemacht. Die ist auch sofort drauf eingestiegen, weil die ja auch schon fast jedes Mal dabei war, und ja, dann wollten hinterher beide nicht mehr und das gefiel mir dann hinterher nicht mehr und ich bin dann auch stinksauer geworden. Ja, dann habe ich der äh, zumindest der A. einen gepleckt, also ne Backpfeife gegeben, feste. Dann ist sie auch heulend rausgelaufen und das war mir dann irgendwie auch scheißegal. Hauptsache, ich hab ihr gesagt, was ich halt wollte.“

Oft wurde nicht direkt mit intensiven Formen sexualisierter Gewalt begonnen (z.B. Penetrationen), sondern es wurde zunächst „getestet“, wie sich das Geschwister verhält, wenn verbotene Handlungen ausgeführt werden. Ein Bruder fasst seiner Schwester beim Versteckspielen im Dunkeln scheinbar versehentlich zwischen die Beine – er wartet ab, wie sie reagiert. Erzählt sie es den Eltern, oder nicht? Ein Bruder lässt seinen jüngeren Bruder heimlich Alkohol trinken und zeigt ihm einen Pornofilm auf dem Handy. Er legt seine Hand auf dessen Schoß – wird der Bruder Mutter oder Vater etwas sagen, oder nicht? In dieser Desensibilisierungsphase wird das Zulassen des körperlichen Kontaktes durch das Geschwister erprobt. Wenn keine Aufdeckung/Offenlegung zu befürchten ist, wird die Intensität der Handlungen allmählich gesteigert.

Abschließend sei angemerkt, dass Geschwister oft ein enges Vertrauensverhältnis verbindet und die Manipulationen daher in vielen Fällen sehr subtil ablaufen und nicht immer offensichtlich sind. So berichten betroffene Frauen im Erwachsenenalter auch davon, die Handlungen als Kinder sofort mitgemacht zu haben, als der Bruder sie darum gebeten hatte, ohne dass dieser besondere Strategien anzuwenden schien.

Um einer Offenlegung der sexualisierten Gewalt entgegenzuwirken, drohen die sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen häufig:

Besonders dann, wenn Videoaufnahmen/Fotos von den Handlungen angefertigt wurden, können diese über einen langen Zeitraum als Druckmittel verwendet werden. Einige Geschwister nötigen betroffene Geschwister, selbst sexualisiert-übergriffige Handlungen an Geschwistern auszuführen – auch das wird als Druckmittel eingesetzt. Wenn Betroffene sexualisierter Gewalt erkennbare körperliche Reaktionen in Form einer Erregung im Kontext der sexualisierten Gewalt gezeigt haben (z.B. erigierter Penis bei Jungen) verstärkt dies die Schuld- und Schamgefühle und kann von den sexualisiert-übergriffigen Geschwistern bewusst eingesetzt werden, um eine aktive Beteiligung zu suggerieren.

Die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen, wie es dazu kommt, dass die Handlungen häufig nicht nur einmalig stattfinden, sondern wiederholt werden. Studien zeigen, dass besonders in Geschwisterbeziehungen ein hohes Risiko für eine Chronifizierung besteht.

Chronifizierung sexualisierter Gewalt durch Geschwister

Wie bereits skizziert, haben viele Kinder und Jugendliche eigene Erfahrungen mit Vernachlässigung oder Misshandlungen gemacht und verfügen daher über ein negatives Selbstkonzept. Sie fühlen sich nicht beachtet, nicht geliebt, alleingelassen und ohnmächtig. Sie möchten sich besser fühlen, verspüren den Wunsch nach Nähe und Beziehung, nach Sexualität und Intimität, aber sie haben keine Strategien, wie das gelingen kann. Sexuelle Fantasien und Masturbation werden genutzt, um innere Spannungen abzubauen und um positive Gefühle von sexueller Erregung und Macht zu spüren. Die schlechten Gefühle werden durch die guten Gefühle, die durch sexuelle Aktivitäten entstehen, ersetzt bzw. überlagert. Aus der Forschung ist bekannt, dass viele Kinder, die sexualisiert-übergriffige Handlungen an ihren Geschwistern ausüben, in einem sexualisierten Familienmilieu aufgewachsen sind. Das bedeutet zum Beispiel, das Altersgrenzen fehlen, eine frühe Konfrontation mit Pornografie erfolgt oder keine Privat-/Intimsphäre in der Familie existiert. Im Rahmen des „Targeting“ erfolgt die Opferauswahl und Planung erster sexualisierter Übergriffe. Daran schließt sich die „Grooming-Phase“ an: Durch eine erhöhte emotionale Zuwendung wird eine besondere Nähe zum ausgewählten Geschwister aufgebaut. Anschließend werden erste sexualisiert-übergriffige Handlungen ausgeführt (häufig zu Beginn mit geringgradiger Intensität), um die Reaktion des Geschwisters und die Aufdeckungswahrscheinlichkeit zu prüfen. Gefühle von Dominanz, Kontrolle, Macht, Überlegenheit und Selbstwirksamkeit verdrängen die schmerzhaften Ohnmachtsgefühle und die innere Hilflosigkeit. Nach der Ausübung der Handlungen treten oft (vorübergehende) Schuldgefühle auf, weil das Bewusstsein besteht, etwas Verbotenes getan zu haben und/oder aber weil das Leid der betroffenen Geschwister wahrgenommen wurde (Gegenwehr, Tränen, Schreie). Die Schuldgefühle können minimiert werden, indem die Schuld auf die betroffenen Geschwister übertragen wird („Sie hat ja gerne mitgemacht und wollte es selbst auch!“, „Sie hat sich nicht richtig gewehrt – also hat es ihr auch Spaß gemacht!“), die Handlungen bagatellisiert werden („Ich hab ja keinen richtigen Geschlechtsverkehr erzwungen, sondern sie nur unten geküsst.“) oder die negativen Auswirkungen infrage gestellt werden („Mein Bruder ist noch so jung, er hat das gar nicht richtig mitgekriegt.“). Das schlechte Gewissen führt häufig zu inneren Konflikten, die wiederum das negative Selbstkonzept verstärken. So beginnt der Kreislauf wieder von vorne. Bei Geschwistern besteht ein besonders hohes Risiko einer Fortführung der sexualisierten Gewalt, da die sexualisiert-übergriffigen Kinder und Jugendlichen innerhalb der Familie ein sehr hohes Maß an Kontrolle ausüben können und die betroffenen Geschwister häufig verfügbar sind.

Sexualisierte Gewalt durch Kinder und Jugendliche wird ausgeübt, um dahinterliegende Probleme in einer stark belastenden Lebenswelt zu bewältigen. Sie hat also eine bestimmte Funktion für diejenigen, die sie ausüben. In Beratung und Therapie muss sorgsam herausgearbeitet werden, wie die hinter der sexualisierten Gewalt liegenden Bedürfnisse auf eine andere, nicht schädigende Weise befriedigt werden können.

45 Finkelhor, D. (1984). Child sexual abuse. Free Press.
46 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. ‎ Independently published. S. 38.
47 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. ‎ Independently published. S. 44