05 Tabu

Wieso spricht keiner über das Thema?

Das Sprechen über sexualisierte Gewalt ist grundsätzlich ein Tabu, obwohl sexualisierte Gewalt auch in unserer Gesellschaft allgegenwärtig ist. Viele Menschen haben Probleme, die Realität sexualisierter Gewalt anzuerkennen, weil sie Gefühle von Ekel, Hilflosigkeit und Ohnmacht auslösen. Es ist einfacher, den Gedanken wegzuschieben als die Realität anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzen.
Das Thema „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend in der Fachöffentlichkeit und auch in der Öffentlichkeit diskutiert worden. Nachdem in Deutschland der (fach-)öffentliche Diskurs in den 1980er Jahren damit begann, den sexuellen Missbrauch von Mädchen durch ihre Väter zu thematisieren, wird heute auch vermehrt über sexualisierte Gewalt in Institutionen, in Sportvereinen oder mittels digitaler Medien gesprochen. Auch sexualisierte Gewalt durch Frauen gerät, wenn auch sehr zurückhaltend, ins Blickfeld. Über sexualisierte Gewalt durch Geschwister wird hingegen bislang sehr wenig in der (Fach-)Öffentlichkeit gesprochen. Woran liegt das?

Gründe für die Tabuisierung

Bei dem Thema sexualisierte Gewalt denken viele Menschen zunächst an erwachsene Täter:innen. Die Forschung zeigt hingegen sehr eindeutig, dass ein erheblicher Anteil sexualisierter Gewalt durch Kinder und Jugendliche ausgeübt wird, zum Beispiel durch gleichaltrige Freund:innen oder Liebespartner:innen, Bekannte aus der Gleichaltrigen-Gruppe oder eben innerhalb der Familie durch Geschwister (aber auch durch Cousins und Cousinen). So waren im Jahr 2022 in Deutschland, laut der Polizeilichen Kriminalstatistik bei den angezeigten Fällen 38 % der Tatverdächtigen bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter 21 Jahre alt – Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren machen 29% aus. Dunkelfeldstudien aus anderen Ländern kommen zu dem Schluss, dass bis zu ein Drittel der Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs durch andere Kinder ausgeübt wird. 17

Eine repräsentative Studie aus Australien zeigt, dass die Fälle sexualisierter Gewalt durch Erwachsene (infolge von Präventionsbemühungen) abgenommen haben, Fälle sexualisierter Gewalt durch Jugendliche hingegen angestiegen sind.18

Im Kontext innerfamiliärer sexualisierter Gewalt, wird oft zunächst an den Vater oder Stiefvater als Täter gedacht. Viele Menschen können sich aufgrund des jungen Alters der sexualisiert-übergriffigen Kinder und Jugendlichen, des geringen Altersunterschiedes zwischen den Geschwistern, der fehlenden Generationengrenze, der geschwisterlichen und verwandtschaftlichen Nähe oder des kulturell verankerten „Inzest-Tabus“, nicht vorstellen, dass es sich um sexualisierte Gewalt handeln könnte. Zudem werden die Auswirkungen der sexualisierten Handlungen oft als harmloser eingeschätzt als Übergriffe, die durch eine/n Erwachsene/n begangen werden (was mittlerweile durch die Forschung widerlegt ist).

Das Schweigen betroffener Geschwister

Bevor wir uns anschauen, aus welchen Gründen betroffene Geschwister schweigen, muss zunächst betont werden, dass viele betroffene Geschwister sehr wohl Signale senden und mit ihren kindlichen Möglichkeiten versuchen, auf ihre Situation aufmerksam zu machen und Hilfe zu bekommen. Diese Signale werden aber oftmals in der Familie oder im näheren Umfeld falsch gedeutet oder übergangen. Mehr noch, es werden nicht nur Signale gesendet, sondern Eltern (oft Mütter) werden in den Familien teilweise auch ganz offen über die sexualisierte Gewalt in Kenntnis gesetzt und die Betroffenen bitten sie um Hilfe. Entgegen dem weitverbreiteten Idealbild der schützenden Mutter, machen Betroffene aber auch die Erfahrung, dass ihren Äußerungen nicht geglaubt wird; Mütter (auch Väter) ihnen vorwerfen, Lügen zu verbreiten oder sie mitverantwortlich für die sexualisierten Übergriffe machen bzw. die Handlungen bagatellisieren.

Dazu einige Beispiele:

Es ist also nicht selten so, dass Betroffene verstummen, weil sie keine Hilfe innerhalb ihrer Familie erhalten. Die sexualisierte Gewalt wird normalisiert. Viele Betroffene erzählen erst viele Jahre später, teilweise Jahrzehnte später, im Erwachsenenalter, von ihren Erfahrungen sexualisierter Gewalt als Kind. Sie sprechen erst dann, wenn sich die starken Abhängigkeiten in der Familie aufgelöst haben, wenn sie eigene, Liebesbeziehungen führen, wenn sie eine eigene Familie gründen möchten und bei der Nachwuchsplanung unverarbeitete Themen zurückkommen oder wenn sich die Belastungen durch die sexualisierte Gewalt in Form von psychischen Erkrankungen manifestiert haben.

Nachfolgend werden zentrale Gründe für das Schweigen Betroffener zusammengetragen, die weitestgehend auf Erfahrungsberichte betroffener Frauen im Rahmen einer qualitativen Studie von mir zurückgehen.

Gründe für das Schweigen aus der Sicht betroffener, erwachsener Frauen 19

GrundErläuterung / Beispielaussagen
fehlende vertrauensvolle, liebevolle, feinfühlige Beziehung zu Mutter/VaterBeziehung kennzeichnet sich eher durch emotionale Distanz und Kälte; Gefühle und Bedürfnisse können nicht kommuniziert werden, „Mit meiner Mutter hätte ich niemals darüber sprechen können.“
Normalitätsempfinden – fehlende Außenperspektive„Ich bin so groß geworden.“, „So ist das Leben.“, „Ich dachte, das machen alle mit ihren Geschwistern.“
SchamgefühleScham in Bezug auf Nacktheit, sexuelle Posen, zu solchen Handlungen benutzt worden zu sein oder weil etwas Verbotenes getan wird: „Ich hätte niemals mit meiner Mutter darüber sprechen können, weil Sexualität bei uns ein absolutes Tabuthema war und ich mich so sehr geschämt habe.“
Schuldgefühle„Ich habe nicht ‚nein‘ gesagt.“, „Ich habe mich körperlich nicht gewehrt.“, „Ich habe mitgemacht.“, „Ich bin nicht, wie nach einem Streit mit meinem Bruder, zu meinen Eltern gegangen.“ Schuldgefühle scheinen besonders groß zu sein, wenn das übergriffige Kind etwa gleichaltrig ist und wenn keine körperliche Gewalt eingesetzt wurde.
Erinnerungslücken und Verdrängung als Trauma-Reaktionen (bis hin zu Dissoziationen)„Ich hatte lange Zeit Flashbacks, konnte mich nur an Bruchstücke erinnern. Ich musste das Bild im Erwachsenenalter erst mit meiner Therapeutin zusammensetzen.“, „Ich merke, wie eine Gardine von der Seite zugeht, und dann bin ich innerlich weg.“
Bindung zum übergriffigen GeschwisterkindOft besteht auch eine liebevolle Beziehung zum übergriffigen Geschwister oder eine Abhängigkeitsbeziehung: „Ich habe meinen Bruder immer sehr vergöttert, immer sehr in den Himmel gehoben.“, „Mein Bruder hatte zwei Persönlichkeiten, nachts hat er mich missbraucht und tagsüber war er ganz normal.“
Diverse ÄngsteEltern werden das Gesagte nicht glauben, nicht helfen, bestrafen; „Ich muss die Familie verlassen, wenn das rauskommt.“, „Ich muss ins Heim.“, „Mein Bruder muss dann ins Heim/ins Gefängnis.“, „Ich werde mit einer Offenlegung die gesamte Familie zerstören.“, „Mein Bruder wird den Kontakt abbrechen/wird mich bestrafen, wenn ich das erzähle.“
Fehlende SpracheIm frühen Kleinkindalter aufgrund fehlender Sprachfähigkeit oder aufgrund fehlender Worte für Geschlechtsteile, Sexualität, sexualisierte Gewalt: „Ich hatte einfach keine Worte dafür.“
Reframing (Umdeutung)Sexualisiert übergriffige Geschwister vermitteln falsche sexuelle Normen: „Das machen alle so.“; reden den Betroffenen ein, es sei alles nur ein „(Doktor-)Spiel“ oder eine notwendige Untersuchung des Körpers, Betroffene übernehmen diese Sichtweise. „Erst als ich Jugendliche war, hat mir mein Freund gesagt, dass das nicht alle mit ihren Geschwistern machen.“
Erlernte GeheimhaltungKinder haben gelernt, Familiengeheimnisse zu wahren: “Das war eine Familiensache – die geht keinen etwas an.“

Bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister besteht ein sehr großer innerfamiliärer Druck, weil alle Familienmitglieder wieder schnell als „heile Familie“ zusammenleben möchten. Daher kann es auch nach der Offenlegung schnell dazu kommen, dass den Betroffenen wenig Zeit für ihren Heilungsweg gelassen wird und Tendenzen zur Tabuisierung und Bagatellisierung andauern.

Das Schweigen sexualisiert-übergriffiger Kinder & Jugendlicher

Bereits Kinder, die sexualisierte Gewalt ausüben, wissen in der Regel, dass sie etwas „Verbotenes“ tun. Sie haben Angst davor, erwischt zu werden, Ärger zu kriegen oder bestraft zu werden. Auch Kinder und Jugendliche können strategisch vorgehen und versuchen eine Aufdeckung der Handlungen zu vermeiden. Sexualisierte Gewalt geschieht nicht zufällig, sondern wird in der Mehrheit der Fälle vorab geplant.
(Siehe dazu auch Menüpunkt „Vorgehen“.)

Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass viele junge Menschen, die mit ihren Handlungen konfrontiert werden, diese zunächst leugnen und ihre Verantwortung abwehren. In der Regel entwickelt sich eine Verantwortungsübernahme (oder ein Schuldeingeständnis) erst in einem allmählichen Prozess, oft nachdem therapeutische Hilfe in Anspruch genommen und ein Vertrauensverhältnis zum Therapeuten/zur Therapeutin aufgebaut wurde. Die Verantwortungsabwehr stellt zunächst eine natürliche menschliche Reaktion auf die Konfrontation mit unangenehmen und folgenschweren Sachverhalten dar. Prinzipiell reagiert nahezu jeder Mensch mit Abwehrreaktion auf Kritik, um eine positive Selbst- und Fremdwahrnehmung zu bewirken. Menschen, die andere durch sexuelle Verhaltensweisen schädigen, fürchten eine Aufdeckung beispielsweise aufgrund der:

  • „Angst vor Sanktionen seitens der Eltern (die zugleich die Eltern des betroffenen Geschwisters sind),
  • Angst vor dem Auseinanderbrechen der Familie,
  • Angst vor einem Abbruch der (zugleich auch liebevollen) Beziehung zum betroffenen Geschwister,
  • Angst vor einer Fremdunterbringung in einer Einrichtung der Jugendhilfe oder einer Psychiatrie,
  • Angst vor juristischen Verfahren und strafrechtlichen Konsequenzen,
  • Angst vor einer Stigmatisierung aufgrund des Verstoßes gegen das Inzest-Tabu,
  • Angst vor einer Stigmatisierung als Kriminelle/r und sozialer Ächtung.“ 20

Das Abstreiten und Leugnen kann also unmittelbar nach der Offenlegung als eine wahrscheinliche Ausgangsreaktion verstanden werden.

Die Bagatellisierung der Eltern

Zunächst ist herauszustellen, dass viele Eltern es für unmöglich halten, dass sexualisierte Gewalt in ihrer eigenen Familie vorkommt. Für die meisten Eltern „bricht eine Welt zusammen“, wenn sie erfahren, dass eins ihrer eigenen Kinder sexualisierte Gewalt erfahren hat. Wenn sie zudem auch noch erfahren, dass die sexualisierte Gewalt von einem anderen eigenen Kind ausgeübt wurde, geraten sie in eine massive Krise. Es fällt Eltern oft schwer, sexualisierte Gewalt durch Geschwister als Realität anzunehmen. Sexualisierte Gewalt durch Geschwister trifft mitten ins „Herz der Familie“.

Eine betroffene Mutter äußerte: “Ich wollte nicht, dass meine Kinder draußen spielen, weil ich so viel Angst um sie hatte. Ich dachte, zuhause seien sie sicher! Die Nachricht vom sexuellen Missbrauch hat mich umgehauen.”

Würde ein Kind beispielsweise sexualisierte Übergriffe durch ein anderes Kind aus der Schule erfahren, würden sich die Eltern schnell schützend vor ihr Kind stellen, eine Klärung herbeiführen, dafür sorgen, dass kein Kontakt mehr zum sexualisiert-übergriffigen Kind besteht. Wenn die sexualisierten Übergriffe aber von einem eigenen Kind ausgehen, ändert sich diese Dynamik oft. Die Eltern geraten in einen Loyalitätskonflikt, denn sie wollen beide Kinder schützen. Es entstehen massive Schuldgefühle, in der Elternrolle versagt zu haben, die sich abmildern lassen, indem die sexualisierten Übergriffe bagatellisiert werden. Das ist die einfachste Lösung und der verzweifelte Versuch an der Vorstellung der „heilen“ Familie festzuhalten: die Bagatellisierung. Eltern bagatellisieren und minimalisieren, um eigene Schuldgefühle abzuwehren, um nicht in Loyalitätskonflikte zu geraten, die entstehen, weil sie die Eltern beider Kinder sind, und um „normal“ als Familie weiterleben zu können.

Bei den Eltern drängen sich viele Fragen auf:

  • „Wieso habe ich das nicht bemerkt?“
  • „Wieso konnte ich mein Kind nicht schützen?“
  • „Wie kommt mein Kind dazu, solche Handlungen auszuführen?“
  • „Wieso hat sich das betroffene Kind nicht an mich gewandt?“
  • „Was denken Familienangehörige, Freund:innen, Bekannte, wenn sie hören, was bei uns in der Familie passiert ist?“
  • „Bin ich eine schlechte Mutter/ein schlechter Vater?“

Auch für Eltern kann die sexualisierte Gewalt ein Trauma darstellen oder selbst erlebte Traumata können durch die Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht reaktiviert werden.

Nachfolgend einige Zitate betroffener Eltern:

„Als Eltern stehen wir vor einem riesigen Trümmerhaufen und unsere einst so heile und glückliche Familie gibt es nun plötzlich von dem einem auf den anderen Tag nicht mehr…. Uns beschäftigen unzählige Fragen und wir merken leider auch, wie schwer es ist, entsprechendes Fachpersonal zu finden, das speziell auf dieses furchtbare Szenario vorbereitet ist.“ 21

„Mittlerweile weiss ich, warum man sich nicht mit diesem Thema auseinandersetzen will. Wenn man es tun würde, bekäme man einen „Klotz“ angehängt, den man fortan mitschleppen müsste. Sich gefühlsmäßig darauf einzulassen, ist so schmerzhaft, dass das niemand möchte.“ 22

„Dreiundzwanzig Jahre eines leidvollen, tränendurchtränkten Wegs mit Schuldgefühlen, quälender Ungewissheit, Verlust der ‚normalen‘ Familie, Gefühl des Versagens, zerstörtem Lebenswerk und Angst, ein weiteres Mal zu versagen oder etwas, das man liebt, zu verlieren.“ 23

Diese Zitate verdeutlichen eindrucksvoll die Überforderung und Hilflosigkeit vieler betroffener Eltern nach der Offenlegung. Es ist wichtig, dass Eltern von (qualifizierten) Fachkräften dabei unterstützt werden, die sexualisierte Gewalt als Wahrheit anzunehmen und gefördert werden, beide Kinder zu unterstützen und eine sichere Umgebung bereitzustellen, die körperliche Sicherheit und emotionale Zuwendung gewährleistet. Das schaffen Eltern häufig nicht ohne professionelle Hilfe.

Die Bagatellisierung von Fachkräften

Es gibt weit verbreitete Tendenzen zur Tabuisierung und Bagatellisierung, die nicht nur bei Eltern, sondern auch bei Fachkräften auftreten, die mit Fällen sexualisierter Gewalt durch Geschwister konfrontiert sind. In Bezug auf Fachkräfte wie zum Beispiel Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen/Sozialpädagog:innen ist zunächst hervorzuheben, dass sich viele von ihnen weder im Rahmen ihrer Ausbildung noch im Rahmen ihres Studiums mit dem Thema sexualisierte Gewalt auseinandersetzen. Bis heute ist es möglich, „Soziale Arbeit“ zu studieren, ohne überhaupt mit dem komplexen Thema „Kinderschutz“ in Berührung zu kommen, obwohl die Hochschulabsolvent:innen anschließend Fallverantwortung im Jugendamt übernehmen können und für Kinderschutzfälle verantwortlich sind. Eine aktuelle Fallstudie verdeutlicht eindrücklich, dass auch Mitarbeitende in Jugendämtern oft mit dem Thema sexualisierte Gewalt überfordert sind. 24

Es mangelt also auch bei den „Fachkräften“ oft an Grundlagenkenntnissen zum Thema „Kinderschutz“ im Allgemeinen und „sexualisierte Gewalt“ im Speziellen. So ist es nicht selten, dass auch Fachkräfte nicht wissen, anhand welcher Kriterien sie sexualisierte Gewalt von Doktorspielen unterscheiden können und diese daher vorschnell als solche verharmlosen. Selbst Fachkräfte, die bereits über ein Grundlagenwissen zum Thema „sexualisierte Gewalt“ verfügen, kennen sich oft nicht mit besonderen Dynamiken und Herausforderungen bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister aus. Für betroffene Familien in Deutschland ist es bis heute sehr schwierig, überhaupt qualifizierte Fachkräfte zu diesem Themenschwerpunkt zu finden.

Ein weiterer Grund für die Bagatellisierung ist darin zu sehen, dass psychosoziale Fachkräfte eher der Eltern-Kind-Bindung Aufmerksamkeit schenken als der horizontalen Geschwisterbindung. Sowohl im therapeutischen Kontext als auch im (sozial-)pädagogischen Setting wird bei auffälligem Verhalten von Kindern eher die Bindung zu den Eltern analysiert als zu den Geschwistern. Psychische, körperliche und/oder sexualisierte Gewalt in einer Geschwisterbeziehung werden leicht übersehen.

Darüber hinaus kann die Sorge der Fachkräfte, sich mit einem so belastenden Thema auseinandersetzen zu müssen und möglicherweise Fehler in der Fallarbeit zu machen, dazu führen, dass sie das Problem innerlich abwehren oder minimieren. Viele fühlen sich mit dem Thema überfordert, sie stehen unter einem massiven Handlungs- und Entscheidungsdruck, der nicht selten, auf Kosten der Kinder, in Vermeidungs- und Entlastungsstrategien mündet.

In Bezug auf die Bagatellisierung von Fachkräfte hat Peter Yates (2018)25, ein Praktiker und Wissenschaftler aus Schottland, eine sehr interessante und zugleich alarmierende Studie vorgelegt. Die Ergebnisse seiner Studie zeigen, dass Sozialarbeiter:innen bei Fällen sexualisierter Gewalt durch Geschwister eher intuitiv handeln und Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen, anstatt sie fachlich zu begründen. Ihr Handeln wird von der Vorstellung geleitet, dass Geschwister zusammengehören und, dass Geschwisterbeziehungen positiv und förderlich für die Entwicklung sind. Yates stellt heraus, dass im Rahmen dieses Denkmusters (auch zeitgleich) drei verschiedene Perspektiven eingenommen werden, nämlich:

  • „Kinder sind verletzlich und fügen anderen kein sexuelles Leid zu.“ Sozialarbeiter:innen haben Hemmungen, Kinder als Personen zu begreifen, die sexualisierte Gewalt ausüben. Dies ist insbesondere bei Mädchen und bei Unter-12-Jährigen der Fall.
  • „Geschwisterbeziehungen sind grundsätzlich nicht-missbräuchlich und kennzeichnen sich durch eine immanente Werthaftigkeit.“ Die sexuellen Verhaltensweisen von Geschwistern werden isoliert betrachtet und nicht im Kontext der Beziehung verstanden. Die Qualität der Beziehung und die Machtstrukturen innerhalb der Geschwisterbeziehung werden von Sozialarbeitenden oft nicht ausreichend berücksichtigt, wie von Yates festgestellt.
  • „Die Eltern meinen es doch gut und wollen ihre Kinder schützen.“ Die Überzeugung, dass Eltern es gut meinen und ihre Kinder schützen wollen, beeinflusst maßgeblich die Entscheidungsprozesse von Sozialarbeitenden. Wenn Eltern signalisieren, dass sie Hilfe annehmen, neigen Sozialarbeitende dazu, den Wünschen der Eltern zu folgen und Geschwister zusammenzulassen, ohne die Fähigkeit der Eltern, Schutz zu gewährleisten, zu überprüfen.

Problematisch ist auch, dass fallverantwortliche Sozialarbeiter:innen/Sozialpädagog:innen eine entscheidende Rolle im Hilfeprozess spielen und ihre Empfehlungen oft von anderen professionellen Helfer:innen übernommen werden.

Dramatisierung statt Bagatellisierung

Im Gegensatz zu den dargelegten Tendenzen zur Bagatellisierung und Tabuisierung reagieren Eltern (oder Elternteile) und Fachkräfte aber auch mit Dramatisierungen. Es kann u.a. dazu kommen, dass sexuelle Verhaltensweisen zwischen Geschwistern per se als sexualisierte Gewalt eingeordnet werden, ohne genau zu hinterfragen was überhaupt konkret passiert ist und ohne zu prüfen, ob die Verhaltensweisen eher dem entwicklungstypischen Sexualverhalten oder unangemessen/problematischen Verhalten zuzuordnen wären. Überstürzte, unüberlegte Handlungen sind bei Praktiker:innen nicht selten durch den massiven Handlungs- und Entscheidungsdruck im Kinderschutz zu erklären. Oft verharren Fachkräfte in Problembeschreibungen, suchen eine schnelle sofortige Problemlösung, anstatt im Austausch mit direkten Arbeitskolleg:innen, mit Fachkräften anderer Berufsgruppen (im Helfer:innensystem), unter Einbezug einer „Insoweit erfahrenen Fachkraft (Kinderschutz)“ und wenn möglich (soweit der wirksame Schutz des Kindeswohls dadurch nicht infrage gestellt wird) unter Einbezug der Eltern sowie der Kinder/Jugendlichen an einem ganzheitlichen Fallverstehen zu arbeiten.

In Studien und aus der Praxis wird davon berichtet, dass Mütter oder Väter zu „Ausstoßungstendenzen“ neigen und nach Bekanntwerden der sexualisiert-übergriffigen Handlungen eine sofortige Fremdunterbringung ihres sexualisiert-übergriffigen Sohnes (oder Tochter) fordern und teilweise auch einen Kontaktabbruch. Viele Eltern belastet auch die große (zumeist unbegründete) Sorge, dass ihr Kind nun ein Sexualtäter sei und sich diese besorgniserregende Entwicklung bis ins Erwachsenenalter fortsetzen würde.

Es ist wichtig, dass Fachkräfte sich dieser Tendenzen bewusst sind und sich um eine angemessene und fachlich fundierte Reaktion auf solche Fälle bemühen. Maßnahmen im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt sollten gut durchdacht, sorgfältig geplant und auf die Bedürfnisse der Familienmitglieder zugeschnitten sein.

17 King.Hill, S., McCartan, K., Gilsenan, A., Adams, A. & Beavis, J. (2023). Understanding and Responding to Sibling Sexual Abuse (Series: Palgrave Studies in Risk, Crime and Society). Palgrave Macmillan. S. 10
18 Mathews, B., Finkelhor, D, Pacella, R., Scott, J. G., Higgins, D. J., Meinck, F., Erskine, H. E., Thomas, H., J., Lawrence, D., Malacova, E., Haslam, D., M., Collin-Vézina, D. (2024). Child sexual abuse by different classes and types of perpetrator: Prevalence and trends from an Australian national survey. In: Child Abuse & Neglect, Volume 147, January 2024, https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2023.106562
19 Klees, E. (2024). Die dunkle Seite der Geschwisterbeziehung- Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. In: Watzlawik, M. & von der Lippe, H. (2024). Geschwisterbeziehungen: Herausforderungen und Ressourcen für die Entwicklung. Kohlhammer Verlag.
20 Klees, E./Rosenmüller, S. (2018): Vertrauen als wesentliche Voraussetzung für ein Schuldeingeständnis in der Arbeit mit innerfamiliär sexualisiert übergriffigen Geschwistern. In: Klees, E./Kettritz, T. (Hrsgb.). Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. Praxishand-buch für die pädagogische und psychologisch-psychiatrische Arbeit mit sexualisiert über-griffigen Kindern und Jugendlichen. Lengerich, Pabst.
21 E-Mail betroffener Eltern an E.K.
22 Castagna (2022). Themenheft Sexuelle Übergriffe durch Geschwister. S. 28
23 Castagna (2022). Themenheft Sexuelle Übergriffe durch Geschwister. S. 14
24 Meysen, T, Paulus, M., Derr, R., Kindler, H. (2023). Fallstudie Sexueller Kindesmissbrauch und die Arbeit der Jugendämter. Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/Fallstudie_Sexueller-Kindesmissbrauch-und-die-Arbeit-der-Jugendaemter_bf.pdf
25 Yates, P. (2018). „Siblings as Better Together:” Social Worker Decision Making in Cases Involving Sibling Sexual Behaviour. British Journal of Social Work, 176, 176–194.