02 Problematische Geschwisterbeziehungen

Die dunkle Seite von Geschwisterbeziehungen

Die große Mehrzahl der Kinder wächst in Deutschland mit leiblichen Geschwistern oder Adoptiv- Halb-, Stief- oder Pflegegeschwistern auf. Mehr als Dreiviertel (75,4 %) aller Kinder wachsen mit mindestens einem Bruder oder einer Schwester auf.5 Für viele Menschen sind Geschwisterbeziehungen etwas ganz Besonderes. Sie gehören zu den am längsten anhaltenden Beziehungen im Leben eines Menschen – Geschwister schließen einen „Bund fürs Leben“. Sie verbringen in Kindheit und Jugend mehr Freizeit miteinander als mit irgendeiner anderen Person. Viele Menschen, verspüren eine besondere Verbundenheit zu Geschwistern und assoziieren Begriffe wie Zusammenhalt, Vertrauen, Liebe und Verlässlichkeit – gemeinsam geht man durch „dick und dünn“, „Blut ist dicker als Wasser“.

Es gibt mittlerweile zahlreiche Studien, die zeigen, wie förderlich der Einfluss von Geschwisterbeziehungen auf die Entwicklung sein kann. Aber nicht viele Geschwisterbeziehungen sind wirklich fortlaufend so, wie hier idealtypisch beschrieben. Geschwister verbringen viel Zeit ohne Erwachsene. „Hinter den Kulissen“, im Verborgenen finden viele Interaktionen zwischen Geschwistern statt, werden Grenzen ausgetestet und überschritten, werden Ärger und Frust offen ausgelebt. Aggressionen und Konflikte werden zwischen Geschwistern drastischer geäußert als in der Gruppe mit Gleichaltrigen. Geschwisterrivalitäten kennen viele Menschen, die mit Geschwistern aufgewachsen sind – sie sind auch ein Teil von Geschwisterbeziehungen.

Es gibt aber auch Familien, in denen es nicht bei Geschwisterrivalitäten bleibt, sondern psychische (emotionale, seelische), körperliche und/oder sexualisierte Gewalt durch ein Geschwisterkind ausgeübt wird. Geschwister können auch von mehreren Misshandlungsformen gleichzeitig betroffen sein.

Beispiel für:

… psychische Gewalt: Ein älteres Geschwister setzt das jüngere Geschwister systematisch herab, verspottet, beleidigt und kritisiert es ständig, gibt ihm zu verstehen, es sei wertlos. Dies kann u.a. dazu führen, dass das jüngere Geschwisterkind ein geringes Selbstwertgefühl entwickelt und sich auch minderwertig fühlt. Solche verbalen Attacken können langfristige psychische Schäden verursachen und die Beziehung zwischen den Geschwistern stark belasten.

… für körperliche Gewalt: Ein älteres Geschwister schlägt, tritt oder verletzt das jüngere Geschwister absichtlich mit Gegenständen oder Waffen. Dies könnte u.a. während eines Streits oder aus Wut geschehen und zu blauen Flecken, Verletzungen oder ernsthaften körperlichen Schäden führen. Körperliche Gewalt zwischen Geschwistern kann sowohl kurzfristige als auch langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der betroffenen Geschwister haben.

… für sexualisierte Gewalt: Ein Bruder soll auf jüngere Geschwister aufpassen. Er nutzt ein bestehendes Machtverhältnis aus, um sexuelle Handlungen (wie z.B. unangemessene Berührungen, Geschlechts- oder Oralverkehr, Zeigen pornografischen Materials) auszuführen, denen das betroffene Geschwisterkind nicht wissentlich zustimmt oder beispielsweise aufgrund des jungen Alters nicht wissentlich zustimmen kann. Häufig ist es auch so, dass keine körperliche Gewalt eingesetzt wird, um die Handlungen durchzusetzen, weil ein enges Vertrauens-/bzw. Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Geschwistern besteht. Solche Handlungen führen oft zu schwerwiegenden langfristigen Folgen.

Wenn Geschwister Gewalt ausüben, verliert die Familie ihre Schutzfunktion und Betroffene sind ihren Geschwistern ausgeliefert. Solche Erfahrungen können zu erheblichen negativen Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung führen. Manche Betroffene leiden jahrzehntelang unter den Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit mit Geschwistern gemacht haben. Manche Betroffene sind dadurch traumatisiert.

Bislang betrachten international nur wenige Studien diese „dunkle Seite“ von Geschwisterbeziehungen.

Diese Homepage richtet ihren Blick auf das Thema „sexualisierte Gewalt durch Geschwister“. In Deutschland stehen wir noch ganz am Anfang der Forschung – im Gegensatz zu anderen Ländern wie beispielsweise Australien, dem Vereinigten Königreich, Israel und den USA, wo ein zunehmendes Interesse der Wissenschaft erkennbar ist und auch Fachkräfte aus der Praxis über das Thema diskutieren.

In den letzten Jahrzehnten haben internationale Forschungsergebnisse alarmierende Erkenntnisse über sexualisierte Gewalt durch Geschwister offengelegt. Diese betreffen die Häufigkeit solcher Fälle; die Risikofaktoren innerhalb von Familien, die Auswirkungen auf das weitere Leben sowie die mangelnde Professionalität der Fachkräfte im Umgang mit diesem Thema. Diese Ergebnisse sind in Deutschland weitestgehend unbekannt. Es ist daher dringend notwendig, dass hierzulande eine (fach-)öffentliche Diskussion über diese dunkle Seite der Geschwisterbeziehung beginnt. Betroffene Familien fühlen sich in ihrer Not oft alleine gelassen.

5 Statistische Bundesamt (Destatis) (2022). In Deutschland leben drei Viertel der Kinder mit ihren Geschwistern zusammen. Pressemitteilung Nr. 019 vom 8. April 2022. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/04/PD22_N019_12.html