03 Erläuterung: Sexualisierte Gewalt durch Geschwister

Was ist sexualisierte Gewalt durch Geschwister?

Wie bereits erwähnt, kann man sexualisierte Gewalt durch Geschwister wie folgt definieren:

Sexualisierte Gewalt durch Geschwister umfasst sexuelle Handlungen an biologischen, Adoptiv-, Halb-, Stief- oder Pflegegeschwistern, die sich sowohl von entwicklungstypischen als auch von unangemessenen und problematischen sexuellen Verhaltensweisen abgrenzen. Bei sexualisierter Gewalt werden sexuelle Handlungen entweder gegen den Willen des Geschwisters vorgenommen oder das Geschwister kann aufgrund einer körperlichen, psychischen, kognitiven oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen. Ein bestehendes Machtverhältnis und oft auch Vertrauensverhältnis wird von den sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen ausgenutzt, um eigene Bedürfnisse (insbesondere Macht, Kontrolle, Dominanz, Nähe, Sexualität, Intimität) durch sexuelle Handlungen zu befriedigen. Sexualisierte Gewalt durch Geschwister kann, muss aber nicht, mit körperlicher Gewalt, einhergehen. Häufig wird die emotionale Bindung zum Geschwister ausgenutzt.

Aber was bedeutet das nun konkret? Wie kann man sexualisierte Gewalt erkennen? Es gibt in bestimmten Altersphasen auch entwicklungstypisches Sexualverhalten zwischen Geschwistern. Wie grenzt man sexualisiert-übergriffige Handlungen davon ab? Welche anderen Formen sexueller Verhaltensweisen gibt es noch zwischen Geschwistern?

Werden sexuelle Verhaltensweisen zwischen Geschwistern berichtet oder beobachtet, sollte zunächst eingeschätzt werden, worum es sich dabei genau handelt und welcher Kategorie die Handlungen zuzuordnen sind. Die Einordnung der sexuellen Verhaltensweisen ist wichtig, denn daraus resultieren unterschiedliche Reaktionen. Leider kennen sich viele Erwachsene (auch Fachkräfte) nicht mit der sexuellen Entwicklung von Kinder und Jugendlichen aus. Besonders wenn kleine Kinder im Vorschul- und Grundschulalter (vor dem 12. Lebensjahr) sexualisierte Gewalt ausüben, tendieren Erwachsene schnell dazu, diese Handlungen als normales, entwicklungsbedingtes Sexualverhalten („Doktorspiele“) abzutun.

Es ist zunächst wichtig, dass Beobachtete oder Gesagte zeitnah, sehr sorgfältig zu dokumentieren. Es empfiehlt sich, Erzählungen (oder Beobachtungen) möglichst wortgetreu aufzuschreiben, ohne sie mit eigenen Rückschlüsse und Hypothesen zu vermischen.

Bei der Einschätzung der sexuellen Verhaltensweisen ist es wichtig, diese nicht isoliert zu betrachten, sondern immer im Zusammenhang mit Familiendynamiken, Beziehungen und Machtverhältnissen innerhalb der Familie. Sexualisierte Gewalt ist oft nur ein Symptom tieferliegender, häufig dysfunktionaler Familiendynamiken und die gilt es zu erkennen, um wirklich Hilfe anbieten zu können.

Um zu erläutern, was sexualisierte Gewalt ist und wie sich sexualisierte Gewalt von normalem entwicklungstypischen Sexualverhalten abgrenzt, ist eine Abbildung von Simon Hackett hilfreich, die nachfolgend auf Deutsch übersetzt und inhaltlich leicht angepasst, erläutert wird.6 Hackett stellt die sexuellen Verhaltensweisen von Kindern und jungen Menschen als Kontinuum dar. Deutlich wird in der Abbildung, dass es nicht nur „normales“ Sexualverhalten und „sexualisierte Gewalt“ gibt, sondern, dass es auch noch weitere Erscheinungsformen (unangemessen & problematisch) gibt, die dazwischen liegen und eine Intervention erfordern, weil sie ebenfalls zu negativen Langzeitfolgen führen. Auch für diese Formen müssen Eltern und Fachkräfte sensibilisiert werden.

„Normal“

Auch zwischen Geschwistern kann es im Vorschulalter entwicklungstypische sexuelle Verhaltensweisen, sogenanntes sexuelles Explorationsverhalten geben. Sophie King-Hill und Kolleg:innen betonen, dass entwicklungstypische sexuelle Verhaltensweisen in der Regel bei Kindern im Alter zwischen vier und sechs Jahren stattfinden, also im Vorschulalter.8 In dieser Altersphase sind Doktorspiele weit verbreitet, auch zwischen Geschwistern. Mit zunehmenden Alter entwickelt sich Körperscham, was bedeutet, dass Kinder nicht mehr möchten, dass andere Personen beispielsweise die Toilette betreten, wenn sie diese nutzen oder sie sich nicht mehr vor anderen ausziehen möchten. Es entsteht zunehmend ein Bewusstsein für die eigene Körperlichkeit, für Unterschiede zwischen den Geschlechtern, Scham, Intimsphäre, Grenzen, kulturelle/gesellschaftliche/familiäre Normen und Werte.

Bettina Schuhrke fasst verschiedene Forschungsergebnisse zu sexuellen Verhaltensweisen von Kindern zusammen, die viele Eltern oder auch Fachkräfte vielleicht nicht so erwartet hätten: Jungen können bereits im frühen Kindesalter Erektionen bekommen, sogar bereits im Mutterleib. Wichtig ist, dass sich diese sexuelle Erregbarkeit von kleinen Kindern deutlich (!) von der sexuellen Erregbarkeit im Erwachsenenalter unterscheidet. Bei Kindern liegt keine genitale Fixierung vor, sondern Kinder sind mit all ihren Sinnen auf der Suche nach Lustgewinn. Auch eine Orgasmusfähigkeit besteht bereits ab dem 1. Lebensjahr. Die meiste sexuelle Aktivität bei Kindern wird in der frühen Kindheit beobachtet – im Alter von drei bis vier Jahren. In diesem Alter werden Verhaltensweisen wie: Anschauen der Geschlechtsteile anderer, Berührung der Geschlechtsteile zu Hause, Berührung der Brüste weiblicher Personen, Menschen beim Ausziehen beobachten oder sexuelle Spiele mit anderen beobachtet.9

Es sind also nicht alle sexuellen Verhaltensweisen bei Kindern per se problematisch oder gefährdend. Bettina Schuhrke fasst zusammen, dass eine gewisse sexuelle Betätigung in der frühen Kindheit auf einem eher niedrigen Niveau als „statistisch normal“ angesehen werden kann. Dieses normale Sexualverhalten kann sich auch auf Geschwister beziehen.

Um von normalen, entwicklungstypischen Sexualverhalten sprechen zu können, müssen allerdings verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Entscheidend ist, dass ein Machtgleichgewicht in der Beziehung (z.B. Alter, Größe, Entwicklungsstand) zwischen den Beteiligten vorliegt und die Kontakte einvernehmlich, gegenseitig ausgeführt werden und gemeinsam entschieden sind. Wenn beispielsweise ein 12-Jähriger mit seiner dreijährigen Schwester sexuelle Verhaltensweisen ausführt, liegt ein deutliches Machtgefälle vor und es kann auch altersbedingt nicht von Doktorspielen gesprochen werden.

Spielerisches sexuelles Explorationsverhalten beinhaltet das Erforschen des eigenen Körpers oder des Körpers des Geschwisterkindes (sogenannte Doktorspiele), aber es zielt nicht vornehmlich darauf ab, eine sexuelle Befriedigung zu bewirken. Es ist gekennzeichnet durch Spontanität, Neugier und Unbeschwertheit und durch die Abwesenheit von Angst.

„Normales“ Sexualverhalten ist gesellschaftlich (weitestgehend) akzeptiert, wenngleich auch das Sprechen darüber tabuisiert wird. Solche Interaktionen passieren hin und wieder und hören auf, wenn Erwachsene den Kindern sagen, dass sie damit aufhören sollen. Es ist ratsam, dass Eltern und Fachkräfte (z.B. Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen, Sozialpädagog:innen) angemessen darauf reagieren, indem sie den Kindern zuhören, ihre Fragen beantworten, kindgerechte Erklärungen geben und ihnen beibringen, wie sie ihre eigenen Grenzen schützen können. Dadurch wird eine Gesprächsgrundlage rund um das Thema „Sexualität“ geschaffen, die auch genutzt werden kann, wenn Kinder oder Jugendliche Grenzverletzungen erfahren oder selbst Grenzen verletzen.10 Das beinhaltet auch das Recht, „Nein“ zu sagen, wenn ihnen etwas unangenehm ist. Im Kindergartenalter sollte eine „zurückhaltende Sexualaufklärung“ stattfinden: das bedeutet, dass die Kinder in diesem Alter noch nicht „alles“ wissen sollten – (z.B. Detailwissen zu Techniken des Sexualverkehrs). Kinder haben auch ein „Recht auf Unwissenheit“.11 Ein gesundes Körperbewusstsein und ein angemessener Umgang mit Körperlichkeit sollten jedoch vermittelt werden.

Fallbeispiel:

Der fünfjährige Bruder und seine vierjährige Schwester zeigen sich gegenseitig ihre Genitalien, während sie in der Badewanne sitzen. Beide sind albern und lachen. Die Beziehung zwischen ihnen ist liebevoll. 12

Versuche, den Geschlechtsverkehr auszuführen, überschreiten eine Grenze und geben im (frühen) Kindesalter immer Anlass zur Sorge.

Zwischen befreundeten, älteren Kindern und Jugendlichen sind sexuelle Verhaltensweisen ebenfalls verbreitet und zählen zum entwicklungstypischen Sexualverhalten. In Bezug auf Geschwister greift jedoch mit zunehmendem Alter das sogenannte „Inzest-Tabu“, also das Verbot innerhalb einer Familiengruppe sexuelle Kontakte auszuführen, das in nahezu allen Kulturen existiert. Zudem wird diskutiert, ob es eine angeborene Abneigung gegen die Ausführung sexueller Kontakte zwischen Personen gibt, die seit früher Kindheit eng zusammenleben, die sogenannte „Inzest-Scheu“.13

Unangemessen & problematisch

Nachfolgend werden die beiden Kategorien „unangemessen und problematisch“ in den Blick genommen, die sich vom entwicklungstypischen Sexualverhalten unterscheiden. Bei unangemessenen Verhaltensweisen ist der Kontext der Handlungen unangemessen und es handelt sich typischerweise um Einzelfälle. Das Verhalten ist in der Gruppe Gleichaltriger (Peer-Group) sozial akzeptiert, aber nicht im weiteren gesellschaftlichen Kontext. Dieses Verhalten ist im Allgemeinen einvernehmlich und gegenseitig, aber trotzdem ist dieses Verhalten nicht förderlich für die Entwicklung.

Problematische sexuelle Verhaltensweisen treten in der Regel dann auf, wenn unangemessene sexuelle Verhaltensweisen, die entwicklungsuntypisch und gesellschaftlich unerwartet sind, wiederholt und strukturiert auftreten oder auch, wenn Fragen der Zustimmung und Gegenseitigkeit unklar sind. Diese Handlungen geben Anlass zur Besorgnis. Das Verhalten kann zwanghaft sein, was bedeutet, dass die sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen einen inneren Druck erleben und häufig daran denken, diese Handlungen auszuführen, weil sie damit schlechte Gefühlszustände ausgleichen (kompensieren). Die Einwilligung der beteiligten Geschwister kann unklar sein. Die Beziehung kann durch ein Machtungleichgewicht gekennzeichnet sein. Wichtig ist, dass es bei dieser Form keine Anzeichen dafür gibt, dass eine Person diese Handlungen (mit Zwang und Gewalt) durchsetzt und eine andere viktimisiert wird (also „Opfererfahrungen“ macht) – ansonsten würde man von sexualisierter Gewalt sprechen.

Unangemessene und problematische sexuelle Verhaltensweisen können beispielsweise entstehen, wenn Geschwister in einer „kalten“ familiären Atmosphäre aufwachsen, in der sie Liebe und Geborgenheit durch ihre Eltern vermissen. Die Geschwister rücken näher zusammen, um sich emotionalen Halt und Liebe zu geben und die natürlichen Grenzen zwischen ihnen, verwischen allmählich. Die Beziehung wird sexualisiert. Wiederum in anderen Familien oder aber auch hinzukommend zur emotionalen Kälte, wachsen die Geschwister in sexualisierten Familienmilieus auf, in denen Eltern keine Grenzen setzen und die Kinder beispielsweise freien Zugang zu Pornographie haben oder die Sexualität Erwachsener ungefiltert miterleben. Unangemessenes und problematisches Sexualverhalten kann zudem auch die Folge selbst erfahrener sexualisierter Gewalt sein. Im Gegensatz zu normalem und altersgemäßem sexuellem Verhalten können unangemessene und problematische sexuelle Verhaltensweisen langfristig negative Auswirkungen haben, insbesondere Depressionen und eine gesteigerte Erotisierung, wie in Studien festgestellt wurde. Zudem kann die sexuelle Verstrickung mit den Geschwistern die Individuation, also die Entwicklung eines Selbstkonzeptes, das sich von Erwartungen anderer abgrenzt, erschweren.

Es ist wichtig, dass psychosoziale Fachkräfte herausarbeiten, welche Belastungen und Probleme zu solchen Verhaltensweisen geführt haben könnten. Die jungen Menschen benötigen klare Regeln und Grenzen sowie Anleitung, um gesunde Beziehungen zu entwickeln und problematischen Entwicklungspfaden entgegenzuwirken.

Fallbeispiel „unangemessen“:

Ein 14-jähriger Junge sendet seiner 13-jährigen Stiefschwester unter Alkoholeinfluss eine Textnachricht, die besagt, dass er sie begehrt und er gerne ihr Partner wäre, wenn sie nicht seine Schwester wäre.14 Die Stiefschwester zeigt die Nachricht stolz ihren Freundinnen.

Fallbeispiel „problematisch“:

13-jährige Zwillingsbrüder schauen sich online Pornofilme an und masturbieren sich gegenseitig. 15

Missbräuchlich

Diese Kategorie wird als sexualisierte Gewalt bezeichnet. Hierunter fallen sowohl Übergriffe ohne direkten Körperkontakt (sogenannte „Hands-off-Kontakte“) wie z.B. der Zwang, Pornographie, Missbrauchsabbildungen oder Masturbation anzusehen als auch Übergriffe mit direktem Körperkontakt (sogenannte Hands-On-Kontakte), wie z.B. Berührungen von Brüsten, Scheide, Penis, Po; erzwungene vaginale, orale, anale Vergewaltigungen, u.a. auch mit Gegenständen (Taschenlampe, Schlauch, Sexspielzeug, usw.). Einige Geschwister zeichnen die Handlungen mit einem Handy auf und leiten sie an andere weiter, bzw. drohen damit, dies zu tun, sollte Gegenwehr erfolgen. Zukünftig wird auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Erzeugung von Missbrauchsabbildungen eine größere Rolle spielen. Die Handlungen erfolgen entweder mit der Absicht, Geschwister zu schädigen oder dies geschieht als Folge der Handlungen, ohne erkennbare Absicht.

Sexualisierte Gewalt beinhaltet einen Machtmissbrauch – zwischen den Geschwistern besteht häufig ein Machtungleichgewicht. Einige Wissenschaftler:innen machen ein Machtungleichgewicht daran fest, dass ein Altersunterschied zwischen den Geschwistern von mindestens zwei Jahren besteht, andere sprechen von mindestens fünf Jahren Altersunterschied, der gegeben sein muss. Sicherlich kann man in diesen Fällen davon ausgehen, dass ein Machtungleichgewicht besteht – das Alter alleine ist aber nicht ausschlaggebend. Kritisch anzumerken ist, dass es auch jüngere Geschwister gibt, die sexualisierte Gewalt an ihren älteren Geschwistern ausüben. Ein Machtungleichgewicht kann sich auch dadurch begründen, dass ein jüngeres Geschwister bevorzugt behandelt wird (beispielsweise aufgrund des Geschlechts), ihm mehr Rechte zugesprochen werden, mehr Verantwortung seitens der Eltern übertragen wird oder es in der Entwicklung einfach schon weiter ist.

Ein weiteres Merkmal von sexualisierter Gewalt ist der Einsatz von Zwang und Nötigung, um die Handlungen durchzusetzen. Es ist wichtig zu wissen, dass sexualisierte Gewalt durch Geschwister nicht immer mit offensichtlicher körperlicher Gewalt einhergeht – in sehr vielen Fällen tut sie das nicht. Manche Geschwister, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen, drohen offen oder setzen Gewalt als bewusstes Mittel ein (dies entspricht der Kategorie „gewalttätig“), während andere viel subtiler vorgehen und weniger offensichtlich manipulieren. Oft nutzen sie die starke emotionale Bindung zu ihren Geschwistern aus, um ihre Handlungen auszuführen. Sie müssen daher wenig „Überzeugungsarbeit“ leisten. Einige Geschwister führen die übergriffigen Handlungen direkt aus, indem sie ihre Geschwister dazu bringen, bestimmte Dinge zu tun oder zuzulassen. Andere tarnen die übergriffigen Handlungen möglicherweise als Kinderspiele, wie zum Beispiel „Mutter-Vater-Kind“ oder in „Doktorspiele“, bei denen sie spielen, ein Arzt zu sein und den Körper ihres Geschwisters untersuchen zu müssen oder aber sie belohnen die Geschwister mit gemeinsamer Zeit, Computerspielen, Geld o.ä.. Einige Geschwister setzen erst dann Druck, Zwang oder auch Gewalt ein, wenn die Geschwister nicht mehr mitmachen wollen und sich klar gegen die Handlungen positionieren. Die Dynamiken verändern sich im Laufe der Zeit also auch oft.

Bei missbräuchlichen sexuellen Verhaltensweisen fehlt die „informierte Einwilligung“ durch das betroffene Kind bzw. das betroffene Kind ist nicht in der Lage, diese frei zu geben. „Informierte Einwilligung“ bedeutet, dass eine Person in der Lage ist, die Auswirkungen der Handlungen zu verstehen und den Handlungen bewusst und frei zustimmen zu können.

Bei dieser Form sexueller Verhaltensweisen wird in einigen Fällen spontan (expressive) Gewalt eingesetzt, wenn Frustrationen entstehen – beispielsweise weil sich das betroffene Geschwister zur Wehr setzt.

Fallbeispiel:

Die achtjährige Schwester schaut sich gemeinsam mit ihren beiden älteren Brüdern Pornohefte an. Ihr zehnjähriger Bruder schlägt vor, die Szenen nachzustellen. Er werde sie dann später auch an seinem Computer spielen lassen. Seine Schwester ist unsicher – die Brüder überreden sie. Beide ziehen sich aus und es kommt zur Penetration. Die Schwester glaubt, es sei ein „normales Spiel“. Ihr Bruder möchte das „Spiel“ anschließend öfter spielen. Das Machtungleichgewicht begründet sich neben dem Altersunterschied auch dadurch, dass der Bruder sich immer wieder gewalttätig gegenüber seiner jüngeren Schwester verhält. 16

Gewalttätig

Bei dieser Form sexualisierter Gewalt werden die sexuellen Handlungen durch gewalttätiges Verhalten erzwungen. Dabei wird die Gewalt gezielt, strategisch, kalkuliert eingesetzt, um Macht und Kontrolle zu erreichen. Im Gegensatz zur expressiven Gewalt wird die instrumentelle Gewalt oft rationalisiert, also gedanklich gerechtfertigt, und kann Teil eines größeren Plans sein, um bestimmte Ziele zu erreichen. Die übergriffigen Geschwister werden durch die Gewalt erregt.

Die Handlungen sind sehr intrusiv (aufdringlich) und verletzen die Integrität (Unversehrtheit) der Geschwister massiv. Diese offen-gewalttätige Form sexualisierter Gewalt kennzeichnet sich durch die Neigung, Vergnügen oder Befriedigung daraus zu ziehen, andere Menschen zu quälen, zu erniedrigen oder ihnen Schmerzen zuzufügen (Sadismus).

Fallbeispiel:

Ein Bruder bedroht seine Schwester mit einem Messer, er fesselt sie und vergewaltigt sie anschließend. Über mehrere Jahre werden gewalttätige, sehr intensive Formen sexualisierter Gewalt ausgeübt.

Herausforderungen beim Erkennen sexualisierter Gewalt

Das Erkennen sexualisierter Gewalt wird dadurch erschwert, dass die ausbeuterische Struktur von den Betroffenen selbst oft erst rückwirkend, im Erwachsenenalter, erkannt wird – besonders dann, wenn die sexualisierte Gewalt nicht mit direkter körperlicher Gewalt einherging. Das zeigen viele Studien. Über viele Jahre im Kindes- und Jugendalter ordnen Betroffene die Kontakte als einvernehmlich ein, weil sie nicht genau wissen, wo sexualisierte Gewalt beginnt, weil sie ihre Rechte nicht kennen und weil das Verhalten in der Familie normalisiert wird. Zudem scheuen viele betroffene junge Menschen davor zurück, ihre Erfahrungen offenzulegen (siehe ausführlich Menüpunkt „Tabu?“), auch um ihre Familie zu schützen. Das erschwert die Wahrnehmung und Offenlegung sexualisierter Gewalt. Zumal auch Eltern dazu neigen können, Warnsignale zu ignorieren und Gedanken an sexualisierte Gewalt wegzuschieben, wenn sie ihre Familie schützen möchten. Auch die jungen Menschen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen, neigen zur Geheimhaltung. Fachkräfte sollten diese zu erwartenden Widerstände kennen.

Ein weiterer Aspekt, der das Erkennen sexualisierter Gewalt erschwert, ist das junge Alter von sexualisiert-übergriffigen Kindern. Nicht selten zeigen Kinder bereits vor dem 10. Lebensjahr erste sexualisiert-übergriffige Handlungen an Geschwistern. Das ist allerdings eher die Zeit, in der viele Eltern und auch Fachkräfte, wenn überhaupt, auf Doktorspiele eingestellt sind. Daher werden viele Handlungen nicht als sexualisierte Gewalt eingeordnet, sondern vorschnell als Doktorspiele abgetan, wenn nicht genau zugehört und hinterfragt wird.

Ein weiteres Problem bei der Unterscheidung der sexuellen Verhaltensweisen ist, dass sich Dynamiken im Laufe der Zeit ändern können. Sexualisierte Gewalt kann auch zuvor als einvernehmliche sexuelle Handlung begonnen haben (möglicherweise aus Neugier oder als Ausgleich für mangelnde emotionale Nähe seitens der Eltern) und die Handlungen und deren Intensität werden nach und nach nur noch von einem Geschwister gesteigert und auch erst allmählich werden Manipulationen, Zwang, Drohungen eingesetzt. In anderen Fällen ist ein Geschwisterkind zunächst von sexualisierter Gewalt betroffen und zeigt später gegenüber anderen Geschwistern selbst ein solches Verhalten. Solche Dynamiken sind nicht selten.

Die Einschätzung sexueller Verhaltensweisen ist also in der Praxis oft alles andere als einfach, insbesondere auch, da oft Informationen fehlen und Dynamiken nicht direkt eindeutig erkennbar sind. Diese Ungewissheit lässt sich nicht auflösen, aber man muss dranbleiben, die Geschwister im Blick haben, Gesprächsangebote bereitstellen, Vertrauen aufbauen, Schutz und Sicherheit bieten.

Für Fachkräfte empfiehlt sich immer der Austausch im Team, aber auch externe Beratung durch Fachkräfte aus Fachberatungsstellen zum Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend ist wichtig. An diese Fachberatungsstellen können sich auch Eltern kostenlos im Verdachtsfall wenden, genauso wie betroffene Kinder und Jugendliche, nicht-betroffene Geschwister oder Geschwister, die selbst sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen.

6 Klees, E. (2024). Die dunkle Seite der Geschwisterbeziehung- Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. In: Watzlawik, M. & von der Lippe, H. (2024). Geschwisterbeziehungen: Herausforderungen und Ressourcen für die Entwicklung. Kohlhammer Verlag.
7 Hackett, S. (2011). Children and young people with harmful sexual behaviours. In C. Barter, & D. Berridge (Hrsg.), Children behaving badly? Peer violence between children and young people (S. 121-
8 King.Hill, S., McCartan, K., Gilsenan, A., Adams, A. & Beavis, J. (2023). Understanding and Responding to Sibling Sexual Abuse (Series: Palgrave Studies in Risk, Crime and Society). Palgrave Macmillan.
9 Schuhrke, B. (2015). Kindliche Ausdrucksformen von Sexualität. Zu, aktuellen Wissensstand und dessen Relevanz für Eltern und Institutionen bei der Sexualaufklärung. In: ZSexualforsch, 28, 161-170
10 Schuhrke, B. (2015). Kindliche Ausdrucksformen von Sexualität. Zu, aktuellen Wissensstand und dessen Relevanz für Eltern und Institutionen bei der Sexualaufklärung. In: ZSexualforsch, 28, 161-170.
11 Hinz, A. (2021). Psychologie der Sexualität Eine Einführung für Studium und Praxis. Beltz Juventa.
12 Klees, E. (2024). Die dunkle Seite der Geschwisterbeziehung- Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. In: Watzlawik, M. & von der Lippe, H. (2024). Geschwisterbeziehungen: Herausforderungen und Ressourcen für die Entwicklung. Kohlhammer Verlag.
13 Klees, E. (2008): Geschwisterinzest im Kindes- und Jugendalter. Eine empirische Täterstudie im Kontext internationaler Forschungsergebnisse. Lengerich, Pabst.
14 Yates, P. & Allardyce, S. (2021). Sibling sexual abuse: A knowledge and practice overview. Centre of expertise on child sexual abuse. https://www.csacentre.org.uk/app/uploads/2023/09/Sibling-sexual-abuse-report.pdf
15 Yates, P. & Allardyce, S. (2021). Sibling sexual abuse: A knowledge and practice overview. Centre of expertise on child sexual abuse. https://www.csacentre.org.uk/app/uploads/2023/09/Sibling-sexual-abuse-report.pdf
16 Klees, E. (2024). Die dunkle Seite der Geschwisterbeziehung- Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. In: Watzlawik, M. & von der Lippe, H. (2024). Geschwisterbeziehungen: Herausforderungen und Ressourcen für die Entwicklung. Kohlhammer Verlag.