07 Besonderheiten

Welche Besonderheiten gibt es bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister?

Sexualisierte Gewalt durch Geschwister wird häufig unter den Oberbegriffen „innerfamiliäre sexualisierte Gewalt“ oder „sexualisierte Gewalt durch Kinder und Jugendliche“ mitgedacht. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass es sinnvoll ist, dem Thema einen eigenen Raum zu geben und es für sich genommen zu betrachten, denn es gibt einige Besonderheiten, die bei anderen Konstellation keine oder eine geringere Rolle spielen. Diese „Besonderheiten“ werden nachfolgend betrachtet.

„Dysfunktionale“ Familiensysteme

„Dysfunktionale Familiensysteme“ sind Familien, in denen es chronische Probleme und Schwierigkeiten gibt, die das normale Funktionieren einer Familie beeinträchtigen und sich negativ auf das Wohlbefinden auswirken. Populärwissenschaftlich werden diese Beziehungen innerhalb der Familie gerne als „toxische“ (giftige) Beziehungen bezeichnet, die in vielerlei Hinsicht unausgeglichen und belastend sind. Studienergebnisse zeigen, dass junge Menschen, die eigene Geschwister mit sexuellen Verhaltensweisen schädigen, im Vergleich zu jungen Menschen, die außerhalb der Familie sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen:

  • häufiger „häusliche Gewalt“ bezeugt haben (Lernen am Modell),
  • häufiger selbst sexualisierte Gewalt erfahren haben,
  • häufiger andere Formen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung erfahren haben und
  • häufiger in einem sexualisierten Familienmilieu lebten (Zugang Pornographie).

Die Familien sind also dysfunktionaler. Diese Erkenntnis ist wichtig für Hilfeangebote, denn diese dürfen nicht nur auf das sexualisiert-übergriffige Verhalten ausgerichtet sein. Vielmehr müssen die dahinterstehenden familiären Probleme in den Blick genommen werden und Eltern darin gefördert werden, Erziehungskompetenzen (weiter) zu entwickeln, indem sie u.a. lernen, angemessen mit Stress, Frustrationen, Partnerschaftskonflikten umzugehen, einen gewaltfreien Umgang zu leben oder ihre Schutzfunktion als Eltern wahrzunehmen. Es sollte immer auch ermittelt werden, inwiefern eine traumapädagogische/traumatherapeutische Arbeit mit den Kindern sinnvoll ist.

Doppelte Rolle des sexualisiert-übergriffigen Geschwisters

Betroffene sexualisierter Gewalt durch Geschwister leiden häufig unter ambivalenten Gefühlen, den sexualisiert-übergriffigen Geschwistern gegenüber. Auf der einen Seite verspüren sie Wut, Hass, Ekel, Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Ohnmacht und verabscheuen ihre Geschwister für das, was sie ihnen angetan haben. Auf der anderen Seite besteht oft auch eine vertrauensvolle Beziehung, denn der sexualisiert-übergriffige Bruder (oder die Schwester) war zugleich auch die Bezugsperson in der Familie, die Vertrauensperson, der/die Spielfreund/in, der/die Verbündete gegen die Eltern und es bestand ein enges geschwisterliches Band. In einigen Fällen können Betroffene nachvollziehen, welche Gründe dazu beigetragen haben, dass ihre Geschwister die sexualisiert-übergriffigen Handlungen ausgeführt haben und begreifen ihre Geschwister auch als „Opfer des Familiensystems“. Diese Dynamik zeigt sich besonders dann, wenn miterlebt wurde, wie Bruder oder Schwester zuvor selbst Vernachlässigung und Misshandlungen (körperliche Gewalt/sexualisierte Gewalt) innerhalb der Familie erfahren mussten und, wenn die sexualisierte Gewalt begonnen hat als das übergriffige Kind selbst noch sehr jung war (viele Kinder beginnen vor dem zehnten Lebensjahr). Die sexualisiert-übergriffigen Handlungen werden daher teilweise auch von den Betroffenen „entschuldigt“ und das Einstehen für die eigenen Rechte, für eine Verantwortungsübernahme/ein Schuldeingeständnis durch die sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen oder auch für eine „Wiedergutmachung/Entschädigung“, in welcher Form auch immer, gerät in den Hintergrund.

Bereits bestehendes Vertrauensverhältnis und hohe Verfügbarkeit erleichtern die Überwindung von Hemmfaktoren

Sexualisierte Gewalt geschieht nur selten durch Fremde. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle wird ein Vertrauens- und/oder Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt. Viele erwachsene Täter:innen investieren sehr viel Mühe, um ein solches Vertrauensverhältnis zu Kindern und Jugendlichen aufzubauen. Im Rahmen des „Targeting“ erfolgt die Opferauswahl und die Planung der Handlungen. In der sich anschließenden „Grooming-Phase“ wird durch eine erhöhte Zuwendung eine besondere Nähe zum potentiellen Opfer aufgebaut. Bei Geschwistern ist dieses Vertrauensverhältnis durch die geschwisterliche Bindung oftmals bereits gegeben.

Geschwister verbringen sehr viel Zeit miteinander, oft unbeobachtet von den Eltern. Damit es zur Ausübung sexualisierter Gewalt kommt, müssen nach David Finkelhor vier verschiedene Voraussetzungen 32 erfüllt sein. Neben einer Motivation zum sexuellen Missbrauch, müssen innere Hemmungen überwunden werden, aber auch äußere Hemmfaktoren und der kindliche Widerstand. Als „äußere Hemmfaktoren sexualisierter Gewalt“ gelten zum Beispiel die Eltern, die jedoch in zahlreichen Studien als „abwesend“ beschrieben werden. Eine fehlende Beaufsichtigung des Kindes erhöht das Risiko sexualisierter Gewalt. Die Geschwister haben viel Zeit und viele Gelegenheiten, um nach und nach den kindlichen Widerstand zu überwinden, sei es durch emotionale Zuwendung, Belohnungen, Drohungen oder auch durch den Einsatz direkter Gewalt.

Innerhalb der Familie, in den eigenen vier Wänden, haben sexualisiert-übergriffige Geschwister viele Möglichkeiten, ihre Geschwister dauerhaft zu kontrollieren. Ein Jugendlicher sagte in einem Interview, er habe auch außerhalb der Familie ein Kind sexuell missbraucht, das sei ihm aber zu unsicher geworden, denn seine eigenen Geschwister hatte er stets im Blick. Er habe immer gewusst, was sie tun und wo sie sich aufhalten. Er konnte sie daher gut kontrollieren. Oft ist es so, dass Eltern ältere Geschwister damit beauftragen, auf jüngere Geschwister aufzupassen (Rolle als Babysitter:in). Sie übertragen ihnen somit zusätzliche Macht, die dann leicht ausgenutzt werden kann.

Ein Junge, der sexualisiert-übergriffiges Verhalten an seiner Schwester ausgeführt hat, sagte: „Ich musste auf meine Geschwister aufpassen. Und dann saßen meine Schwester und ich im Wohnzimmer, haben Fernsehen geguckt und mein Bruder war im Zimmer und dann bin ich dahingegangen, hab zu meiner Schwester gesagt, sie soll natürlich in der Stube warten. Da bin ich zu meinem Bruder gegangen ja und dann habe ich ihn gefragt, ob wir Petting machen. Er hat ‚ja‘ gesagt, dann haben wir uns ausgezogen, direkt aufeinandergelegt. (…) Später musste ich nur auf meine Schwester aufpassen, da sind wir auf mein Zimmer gegangen, ich hab sie ausgezogen, ich hab mich ausgezogen, hab n Kondom über mein Penis gestülpt und wollte in sie eindringen.“

Erhöhtes Risiko einer Chronifizierung

Infolge der hohen Verfügbarkeit und dem hohen Maß an Kontrolle, sind die betroffenen Geschwister häufig nicht in der Lage, sich der sexualisierten Gewalt zu entziehen und das Risiko einer Chronifizierung (Festigung der Muster über einen langen Zeitraum bzw. Verschlimmerung) steigt. Im Vergleich zu sexualisierten Übergriffen durch Kinder und Jugendliche außerhalb der Familie umfasst sexualisierte Gewalt durch Geschwister häufigere und intensivere Handlungen, die über einen längeren Zeitraum hinweg stattfinden – das verdeutlichen Vergleichsstudien. Sexualisierte Gewalt durch Geschwister kann auf der Basis von Forschungsergebnissen als die am längsten anhaltende Form sexualisierter Gewalt verstanden werden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sexualisierte Übergriffe mehrmals pro Woche über viele Jahre hinweg stattfinden und so zu hunderten von Handlungen sexualisierter Gewalt führen können. Längst wird in der Fachwelt diskutiert, inwiefern dieses Verhalten auch die Kriterien einer Suchterkrankung erfüllt.

Ein Beispiel aus meiner Studie verdeutlicht diese Dimension: Ein Junge hat dreimal wöchentlich seine Halbschwester sehr intensiv sexuell missbraucht, insgesamt mindestens über 4 Jahre – das sind etwa 624 Taten in 4 Jahren. Zusätzlich hat er weitere Geschwister sexuell missbraucht.

Zitate junger Menschen, die sexualisierte Gewalt an Geschwistern ausgeübt haben:
„Ja, ich wollte das dann immer wieder, Tag für Tag und hab‘ das dann auch jeden Tag so fortgesetzt.“
„Ich konnte damit halt nicht mehr aufhören, wie `ne Droge eigentlich – und das war dann halt das Problem, was ich hatte.“

Verlust des sicheren Ortes

Sexualisierte Gewalt durch Geschwister geschieht in den meisten Fällen in dem eigenen Zuhause der Kinder: im Schlafzimmer eines der Kinder (nach einer aktuellen Studie etwa zu 54 %) 33 , aber auch an allen anderen Orten wie Küche, Wohnzimmer, Keller, Dachboden, Garten, Garage, etc.. Manchmal sind Eltern im Haus anwesend, manchmal sind die Kinder alleine. Für viele Betroffene endet die sexualisierte Gewalt erst dann, wenn das sexualisiert-übergriffige Geschwister von zuhause auszieht. Für die Betroffenen bedeutet dies, dass es keinen sicheren Ort im eigenen Zuhause gibt – keinen Ort, der Geborgenheit und Schutz bietet. Das eigene Zuhause wird zum Ort der Angst, des Leidens, der Traumatisierung.

Wird bekannt, dass ein Kind durch ein Nachbarkind durch sexualisierte Gewalt geschädigt wird, würde der Kontakt sehr wahrscheinlich sofort unterbunden werden. Das ist bei Geschwistern anders.

Auch dann, wenn die sexualisierte Gewalt offengelegt wurde, bleiben Geschwister häufig zusammen. Nicht immer endet die sexualisierte Gewalt nach einer Offenlegung, auch dann nicht, wenn Fachkräfte hinzugezogen und Erziehungshilfen initiiert wurden. Sogenannte Schutzkonzepte, die bestimmte Regeln für die Familienmitglieder festlegen, werden zu selten auf Einhaltung überprüft und geraten zu schnell wieder aus dem Fokus.

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen, sollte nach erfolgter Hilfe immer auch über einen Wohnungswechsel nachgedacht werden.

Erschwertes Erkennen der sexualisierten Gewalt

Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass Betroffene sexualisierter Gewalt die sexualisiert-übergriffigen Handlungen einerseits von geschwisterlicher Liebe und andererseits von „normalem“ geschwisterlichem Streit und Geschwisterrivalitäten unterscheiden müssen. Monika Bormann, ehemalige Leiterin einer Fachberatungsstelle gegen Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellen Missbrauch von Kindern (Neue Wege, Bochum), hat dies treffend herausgestellt und in Bezug auf das betroffene Kind betont:

„Wenn es endlich merkt, dass das, was da geschieht, nicht in Ordnung ist, steckt es in der Falle, schon zu lange mitgemacht zu haben und folglich selbst schuld zu sein. Und es trägt die Bürde des Familienglücks.“ 34

Werden die sexualisiert-übergriffigen Handlungen ohne die Ausübung von direkter körperlicher Gewalt und Zwang, sondern auf der Bais der engen emotionalem Bindung oder subtiler Manipulation ausgeführt, sind sie als Form sexualisierte Gewalt kaum zu erkennen.

Tabuisierung und ausbleibende Hilfe

Sexualisierte Gewalt durch Geschwister wird im Vergleich zu anderen Formen sexualisierter Gewalt stärker tabuisiert und bleibt öfter unentdeckt. Sexualisierte Gewalt durch Geschwister ist das „bestgehütete Familiengeheimnis“. Behörden erlangen nur selten Kenntnis von diesen Fällen.

Siehe dazu ausführlich Menüpunkt: Tabu

Oft stehen Eltern nicht als Unterstützung zur Verfügung, da sie starke Loyalitätskonflikte erfahren oder eigene Schuld- und Schamgefühle abwehren. Innerhalb der Familie werden die Erfahrungen sexualisierter Gewalt normalisiert. Hilfe bleibt häufig aus und es steigt das Risiko einer Fortführung der sexualisierten Gewalt, mit gravierenden Folgen für die Betroffenen und auch für die sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen.

Da den Betroffenen auch außerhalb der eigenen Familie keine spezifischen Hilfeangebote zum Thema „sexualisierte Gewalt durch Geschwister“ begegnen, die verfügbar wären, und das Thema auch gesellschaftlich so stark tabuisiert wird, leben viele Betroffene langfristig ohne Hilfe, aber mit den Belastungen. 35

Folgen der Offenlegung

Die Offenlegung der sexualisierten Gewalt hat weitreichende Folgen für das gesamte Familiensystem. Es wird danach nichts mehr so sein, wie es vorher war. Es kommt zunächst zu einer Aufruhr in der Familiendynamik. Es gilt für alle Familienmitglieder, mit der „neuen Normalität“ leben zu lernen.

Im positiven Sinne kann das bedeuten, dass Eltern sich nach dem Schock auf den Weg machen, um ihre Kinder besser zu schützen und, dass die Familienmitglieder daran interessiert sind, gesunde Beziehungen miteinander zu führen. Im negativen Sinne kann es aber auch bedeuten, dass die Betroffenen als Überbringer:innen der schlechten Nachricht, ausgegrenzt werden. Einige Betroffene erfahren noch Jahrzehnte später Ausgrenzungen, wenn sie beispielsweise nicht zu Familienfesten eingeladen und isoliert werden.

Auch sexualisiert-übergriffige Kinder und Jugendliche erfahren nach der Offenlegung häufig Ausgrenzungen oder werden in einigen Fällen auch von ihren Eltern ausgestoßen.

32 Finkelhor, D. (1984). Child sexual abuse. Free Press.
33 Thomsen, L., Ogilvie, J. & Rynne, J. (2023) Adverse childhood experiences and psychosocial functioning problems for youths who sexually harm siblings, Journal of Sexual Aggression, 29:3, 374-390, DOI: 10.1080/13552600.2023.2223234
34 Bormann, M., 2018: “Jetzt ist aber auch mal gut.” Der Wunsch nach Heilung und Abschluss.” In: Klees, E. & Kettritz, T. (Hrsg.): Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. Praxishandbuch für die pädagogische und psychologisch-psychiatrische Arbeit mit sexualisiert übergriffigen Kindern/Jugendlichen. Lengerich: pabst science publishers, S. 311.
35 King.Hill, S., McCartan, K., Gilsenan, A., Adams, A. & Beavis, J. (2023). Understanding and Responding to Sibling Sexual Abuse (Series: Palgrave Studies in Risk, Crime and Society). Palgrave Macmillan.