11 Beendigung & Hilfe

Wie kann sexualisierte Gewalt durch Geschwister beendet werden?
Welche Hilfen gibt es?

Für den Schutz von Mädchen und Jungen sind in erster Linie deren Eltern verantwortlich. Diese haben das Recht, aber auch die Pflicht ihre Kinder zu erziehen (Grundgesetz, Artikel 6), und zwar zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§1 SGB VIII) – so steht es im Gesetz. Kinder haben auch das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung (§ 1631 BGB). Wird das geistige, körperliche oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet (§ 1666 BGB), ist der Staat verpflichtet, einzugreifen und mit entsprechenden Maßnahmen das Wohl des Kindes zu sichern. Das Wohl des Kindes wird also nicht ausschließlich an der elterlichen Erziehungsverantwortung festgemacht, sondern der Staat hat die Aufgabe eines „Wächteramtes“. Damit ist gemeint, dass die staatliche Gemeinschaft, also eigentlich die Gesamtbevölkerung, über das Wohl des Kindes und des Jugendlichen wacht.

Als staatliche Behörde ist insbesondere das Jugendamt für die Wahrung des Kinderschutzes zuständig. Kinder und Jugendliche sollen davor bewahrt werden durch Gefährdungen, wie z. B. durch Kindesmisshandlung und -vernachlässigung oder sexualisierte Gewalt durch Geschwister, einen Schaden zu erleiden. Besteht eine Kindeswohlgefährdung und die Eltern (Personensorgeberechtigten) sind nicht gewillt oder in der Lage diese Gefährdung abzuwenden, greift das staatliche Wächteramt und verpflichtet die zuständigen Stellen zum Tätigwerden, also insbesondere Jugendämter (und auch Familiengerichte).

Jugendamt

Eltern haben einen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung, wenn das Wohl eines ihrer Kinder nicht gewährleistet oder gefährdet ist (§ 27 SGB VIII). Sie können sich dann beim Jugendamt Hilfe holen. Bei Fällen sexualisierter Gewalt durch Geschwister ist das Wohl mehrerer Kinder gefährdet. Zunächst ist das Wohl der von den Handlungen betroffenen Geschwister gefährdet. Betroffene Geschwister benötigen häufig professionelle Hilfe bei der Bewältigung der erfahrenen sexualisierten Gewalt, um Traumata zu integrieren und mit den Folgen umgehen zu können. Aber auch die jungen Menschen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen, sind gefährdet, denn führen sie ihr Verhalten fort, werden sie weiterhin andere Menschen schädigen und sich nicht zu selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten, wie im Gesetz benannt, entwickeln können. Zudem haben auch sie häufig verschiedene Formen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung erfahren und auch sie brauchen Hilfe bei der Bearbeitung dieser Erfahrungen. Zudem leben vielleicht noch weitere Kinder in der Familie, die auch in Bezug auf eine mögliche Gefährdung in den Blick genommen werden müssen.

Sobald ein Verdacht sexualisierter Gewalt, von einem Kind selbst oder einer anderen Person (häufig melden Personen, die nicht selbst zur Familie gehören) an das zuständige Jugendamt herangetragen wird, gehört es zu den Aufgaben des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) des Jugendamtes (in manchen Kommunen auch als Jugendhilfedienst oder anders bezeichnet), abzuklären, inwieweit eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Dieses Verfahren wird im § 8a SGB VIII geregelt. Es muss dann seitens des Jugendamtes überprüft werden, ob gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen (oder nicht).

Beim Vorliegen gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung wird seitens des Jugendamtes im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte eine Gefährdungseinschätzung vorgenommen; soweit der Schutz des Kindes/Jugendlichen dadurch nicht gefährdet wird, werden Kind/Jugendliche:r und die Personensorgeberechtigten in den Prozess einbezogen, falls erforderlich wird ein Hausbesuch gemacht. Besteht ein Hilfebedarf bieten Fachkräfte des Jugendamtes den Eltern sogenannte „Erziehungshilfen“ (insbesondere nach §§ 28 – 35 SGB VIII) an, die von ambulanten über teilstationären Hilfen bis zu stationären Maßnahmen reichen können. Bei Bedarf kann das Familiengericht einbezogen werden oder die minderjährige Person kann bei einer akuten Gefährdung auch direkt von Mitarbeitenden des Jugendamtes in Obhut genommen werden.

Das Jugendamt ist gemäß § 42 SGB VIII berechtigt und auch dazu verpflichtet, Kinder in seine Obhut zu nehmen, wenn:

  1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder
  2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und
    a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder
    b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder
  3. ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. (§ 42 (1) SGB VIII)

Bei der Inobhutnahme werden die Kinder und Jugendlichen bei einer geeigneten Person, Einrichtung oder sonstigen Wohnform untergebracht (§ 42 Abs. 1 SGB VIII). Die Eltern werden darüber informiert. Die Inobhutnahme ist eine vorläufige Schutzmaßnahme, die dazu dient, die Problemlage zu klären und geeignete Hilfemaßnahmen zu ermitteln. Sie endet mit der Übergabe der Minderjährigen an ihre Personensorgeberechtigten oder durch die Gewährung von Hilfen nach SGB VIII (§ 42 Abs. 3 SGB VIII).

Junge Menschen haben also ein Recht darauf, beim Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung, also wenn sie beispielsweise sexualisierte Gewalt durch Geschwister erfahren, Hilfe und Schutz durch das zuständige Jugendamt zu erhalten und sie können selbst auch um eine Inobhutnahme bitten – das wissen viele junge Menschen nicht.

In Bezug auf die Hilfe durch Jugendämter ist zu beachten, dass die dort tätigen Fachkräfte in vielen Fällen selbst im Rahmen des Studiums Sozialer Arbeit kein Fachwissen zu den Themen „Sexualisierte Gewalt“ und „Kinderschutz“ vermittelt bekommen haben. Bis heute ist das Thema an vielen Hochschulen KEIN Pflichtbestandteil im Studium Sozialer Arbeit. Viele Hochschulen sind gerade dabei, das Thema „Kinderschutz“ als Pflichtbestandteil im Studiengang „Soziale Arbeit“ zu integrieren. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass auch die zuständigen Fachkräfte mit Fällen sexualisierter Gewalt und den besonderen Dynamiken bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister überfordert sein können. Zudem gibt es bislang keine Leitfäden oder andere Orientierungshilfen speziell zur Bearbeitung von Fällen sexualisierte Gewalt durch Geschwister.

Welche Aufgabe hat die Polizei?

Zu den Kernaufgaben der Polizei zählen die Gefahrenabwehr und die Strafverfolgung. Aufgrund des Legalitätsprinzips ist die Polizei verpflichtet, jede ihr bekannt gewordene Straftat zu verfolgen und Ermittlungen einzuleiten. In den letzten Jahrzehnten gab es verschiedenste Anstrengungen, um den Opferschutz zu verbessern (u.a. speziell fortgebildete Sachbearbeiter:innen zu dem Thema „Sexualisierte Gewalt“). Um Straftaten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen zu verhindern, arbeitet die Polizei mit der Jugendhilfe zusammen und bietet u.a. auch kriminalpräventive Informationen zum Schutz vor Straftaten an. In jedem Einzelfall sollte sorgfältig geprüft werden, ob und zu welchem Zeitpunkt die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörde beim Bekanntwerden sexualisierter Gewalt sinnvoll erscheint.

Schutzkonzept oder Fremdunterbringung?

In der Praxis der Jugendhilfe stellt sich schnell die Frage, ob Geschwister nach dem Bekanntwerden sexualisierter Gewalt, weiterhin zusammenleben können. Wenn sich herausgestellt hat, dass es sich bei den sexuellen Verhaltensweisen um sexualisierte Gewalt handelt (und nicht um unangemessene oder problematische sexuelle Verhaltensweisen), muss gut begründet werden, weshalb die Geschwister weiterhin zusammenleben können und wie genau die Sicherheit trotz der Nähe zueinander gewährleitet werden kann. Das Risiko ist hoch, dass diejenigen, die geschädigt haben, ihre Geschwister weiterhin unter Druck setzen, zur Geheimhaltung zwingen oder die sexualisierte Gewalt fortsetzen – das geschieht oft in banalen Alltagssituationen zuhause, nicht selten auch trotz gut gemeinter Schutzkonzepte. Zusicherungen von Eltern und sexualisiert-übergriffigen Geschwistern reichen nicht aus. Verhaltensveränderungen können jedoch erst erwartet werden, wenn auch alternative Verhaltensstrategien von den sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen erlernt wurden. Es reicht nicht aus, den jungen Menschen gegenüber Verbote auszusprechen. Getreu dem Motto: „Wenn man etwas wegnimmt, muss man auch etwas Neues geben.“ müssen sie auch nicht-schädigende Handlungsalternativen kennenlernen und ausprobieren. Das braucht vor allem Zeit.

Eine (vorübergehende) Trennung der Geschwister kann wichtig sein, damit das betroffene Kind, einen geschützten Rahmen hat, in dem Sicherheit gegeben ist, um überhaupt von den Erfahrungen berichten und heilen zu können. Oft stehen Betroffene unter hohem Druck, denn es soll schnell wieder „alles gut“ sein, um als Familie wieder zusammenleben zu können.

Betroffene Geschwister selbst wünschen sich häufig, dass die sexualisierte Gewalt beendet wird, sie wollen aber nicht für das Auseinanderbrechen der Familie die Verantwortung tragen oder sprechen sich aufgrund der auch liebevollen Beziehung zum sexualisiert-übergriffigen Geschwisterkind, eigener Schuldgefühle oder des Nicht-Erkennen-Könnens der ausbeuterischen Struktur sexualisierter Gewalt gegen eine außerhäusliche Unterbringung des übergriffigen Geschwisters aus. Diese Widerstände müssen im Kontext der Missbrauchsdynamik verstanden werden – der Wille der Geschwister selbst oder der Wille der Eltern kann nicht das professionelle Handeln begründen. Für die meisten Eltern ist die Offenlegung sexualisierter Gewalt ein großer Schock, eine große Überforderung und eine (vorübergehende) außerhäusliche Unterbringung kann auch für sie eine entlastende Wirkung haben.

Einige Eltern können die Geschwister räumlich trennen, weil sie getrennt leben oder aber die Möglichkeit besteht, ein Geschwister bei Verwandten/Freund:innen, bei denen keine anderen Kinder in der Familie leben (!), unterzubringen.

Eine Fremdunterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung bringt den Vorteil mit sich, dass dort (im Idealfall) ein entwicklungsförderlicher Rahmen bereitgestellt wird, mit positiven Beziehungsangeboten und der Chance für sexualisiert-übergriffige junge Menschen, alternative Handlungsstrategien zu erlernen.

Nachfolgend wird konkretisiert, in welchen Fällen eine Fremdunterbringung des sexualisiert-übergriffigen Kindes angemessen scheint.

JA, eine Fremdunterbringung ist erforderlich, wenn…

  • schwere Formen sexualisierter Gewalt ausgeübt wurden,
  • die sexualisierten Übergriffe über längere Zeit (mehrere Monate) stattgefunden haben,
  • direkte körperliche Gewalt eingesetzt wurde,
  • das sexualisiert übergriffige Kind die Verantwortung ablehnt und die Übergriffe leugnet,
  • aktuell eine Gefahr vom sexualisiert übergriffigen Kind ausgeht,
  • Zweifel an dem wirksamen Schutz des betroffenen Kindes bestehen (z.B. wenn Eltern leugnen, bagatellisieren, Hilfe ablehnen)
  • die Anwesenheit des sexualisiert-übergriffigen Kindes großes Leid beim betroffenen Kind verursacht

Zu bedenken ist, dass eine Fremdunterbringung in stationären Wohngruppen (Heimeinrichtungen) der Kinder- und Jugendhilfe auch gewisse Risiken mitbringt – auch hier gibt es keine Garantie, einen sicheren Ort vorzufinden. Sexualisierte Gewalt findet oft auch in Wohngruppen durch andere Kinder und Jugendliche oder aber auch seltener durch in der Einrichtung tätige Erwachsene statt bzw. geht dort weiter. 50  Zudem ist bei der Frage, ob eine Fremdunterbringung im Einzelfall notwendig ist, auch das Risiko zu berücksichtigen, dass sich fremduntergebrachte Kinder und deren Eltern entfremden können. Eine Trennung kann darüber hinaus auch ein traumatisches Ereignis für die jungen Menschen darstellen oder als Strafe verstanden werden. All diese Aspekte müssen abgewogen werden.

In Bezug auf die Frage, welches Geschwisterkind die Familie verlassen sollte, ist zu bedenken, dass prinzipiell eher das sexualisiert-übergriffige Kind sein Zuhause verlassen sollte, um zu vermeiden, dass sich das betroffene Kind bestraft fühlt. Bei stark dysfunktionalen Familiensystemen ist aber immer auch zu prüfen, inwiefern eine Kindeswohlgefährdung durch Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in der Familie gegeben ist und bei beiden Kindern über eine Fremdunterbringung nachgedacht werden muss. Auch nicht-direkt betroffene Geschwister, die in der Familie leben, dürfen nicht aus dem Blick geraten.

Die Regierung Queensland 51 hat verschiedene Sicherheitsindikatoren zusammengestellt, die erfüllt sein sollten, wenn Kinder weiterhin zusammen in einem Haushalt leben. Diese wurden nachfolgend auf Deutsch übersetzt:

Sicherheitsindikatoren

Das Kind mit schädlichen sexuellen Verhaltensweisen:

  • ist derzeit nicht von Kindesmisshandlung (körperlich, emotional, sexuell) und Vernachlässigung bedroht;
  • ist in der Lage, die Regeln für eine sichere Familie zu verstehen und zu befolgen;
  • ist in der Lage ist zu verstehen, warum der Sicherheitsplan eingeführt wurde;
  • erhält eine angemessene therapeutische Behandlung und Unterstützung, um sein Verhalten zu ändern ;
  • zeigt derzeit kein Verhalten, das das sexuell missbrauchte Kind oder seine Eltern verängstigt oder einschüchtert.

Das Kind, das sexuell missbraucht wurde:

  • ist derzeit nicht von sexuellem Missbrauch bedroht;
  • hat keine Angst vor dem Kind mit schädlichen sexuellen Verhaltensweisen;
  • hat seine Missbrauchserfahrungen von den betreuenden Eltern geglaubt und bestätigt bekommen,
  • versteht, welche Verhaltensweisen sexuell schädlich sind,
  • ist in der Lage, den Sicherheitsplan und die Gründe für die Einführung des Plans zu verstehen,
  • kann eigene Gefühle benennen und Anzeichen dafür, dass es nicht sicher ist erkennen,
  • zeigt, dass es dem betreuenden Elternteil zutraut, den Sicherheitsplan durchsetzen zu können, und es andere Mitglieder des Sicherheits- und Unterstützungsnetzes benennen kann, denen es sich anvertrauen kann, wenn es sich besorgt oder unsicher fühlt.

Die Eltern sowie das Sicherheits- und Unterstützungsnetz:

  • leugnen oder bagatellisieren die schädlichen sexuellen Verhaltensweisen nicht;
  • erkennen die wahrscheinlichen Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs auf das Opfer an;
  • verhalten sich derzeit nicht in einer Weise, die für die Kinder im Haushalt schädlich oder vernachlässigend ist;
  • in der Lage sind, ein Umfeld zu schaffen, in dem das Kind nicht mit bekannten Auslösern für schädliche sexuelle Verhaltensweisen konfrontiert wird (z.B. häusliche Gewalt, sexualisierte Sprache oder Handlungen, Zugang zu Drogen oder Alkohol oder Pornografie);
  • keine Angst vor dem Kind mit schädlichem Sexualverhalten haben und nachweisen können, dass sie in der Lage sind, Grenzen zu setzen, um das (nicht sexuelle) Verhalten des Kindes gegebenenfalls zu steuern;
  • nachweisen können, dass sie in der Lage und willens sind, den Sicherheitsplan umzusetzen;
  • nachweisen, dass sie eine wirksame Aufsichtsperson für das Kind mit schädlichen sexuellen Verhaltensweisen sind;
  • in der Lage sind, eine Verbindung zu dem Kind, das sexuell missbraucht wurde, aufrechtzuerhalten und jegliche Anzeichen von emotionaler Not wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren;
  • in der Lage sind, eine Verbindung zu dem Kind mit schädlichen sexuellen Verhaltensweisen aufrechtzuerhalten.

Peter Yates und Stuart Allardyce vom „Centre of expertise on child sexual abuse“ empfehlen folgendes 52 (Text wurde ins Deutsche übersetzt):

Eine Trennung sollte immer dann in Betracht gezogen werden, wenn Bedenken hinsichtlich der unmittelbaren körperlichen Sicherheit bestehen, oder wenn die weitere Anwesenheit des Kindes, das geschädigt hat, erhebliches Leid verursacht. Wie bereits erwähnt, kann ein Kind seine Notlage erst mit Verzögerung äußern, so dass jede Entscheidung, Kinder zusammenzulassen, immer wieder überprüft werden muss. Wenn diese Faktoren nicht vorhanden sind, muss unter Berücksichtigung folgender Aspekte, eine Entscheidung getroffen werden:

  • wahrscheinliche Auswirkungen des Verhaltens, einschließlich der emotionalen Auswirkungen auf das geschädigte Kind;
  • Ansichten des geschädigten Kindes, wie auch immer sie geäußert werden;
  • Qualität und der Wert der Geschwisterbeziehung, einschließlich der Berücksichtigung der wahrscheinlichen Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs auf die Beziehung;
  • evidenzbasierte Bewertung der Risiken für zukünftiges sexuelles Verhalten von Geschwistern,
  • Fähigkeiten der Eltern, ihre Kinder zu schützen,
  • Alter und Entwicklungsstand der jeweiligen Kinder,
  • Einschätzung inwiefern (familiäres) Umfeld für Sicherheit förderlich ist.

Eine Trennung ist möglicherweise nicht notwendig, wenn sexuelle Verhaltensweisen als problematisch oder unangemessen und nicht als missbräuchlich eingestuft werden. Dies kann insbesondere bei jüngeren Kindern unter 10 Jahren der Fall sein. Jüngere Kinder, die von sexuellem Verhalten unter Geschwistern betroffen sind, haben oft einen komplexen Traumahintergrund und bei der Beurteilung, ob sie getrennt werden sollten, müssen Bedürfnisse und Risiken abgewogen werden, auch unter Einbezug der Frage inwiefern Geschwisterbeziehungen auch förderlich für vulnerable (verletzbare, verwundbare) Kinder sein können.

Fällt die Entscheidung, Geschwister zusammenzulassen, sollte unverzüglich ein Sicherheitsplan/ein Schutzkonzept installiert werden. Es müssen transparente Familienregeln erarbeitet werden, unter anderem auch in Bezug auf: die Schlafsituation (kein gemeinsames Schlafzimmer der Geschwister), die Badezimmernutzung (zeitversetzt), Spiele drinnen und draußen (unter Beaufsichtigung), den Umgang mit Nacktheit in der Familie (Grenzen und Intimsphäre achtend) und die Geschwisterrollen (übergriffigem Kind keine Verantwortung für andere Geschwister übertragen). Die Einhaltung der vereinbarten Familien-Regeln muss auch kontrolliert werden. Das Kindeswohl darf während des gesamten Hilfeprozesses nicht aus dem Blick geraten. Um dies zu gewährleisten werden in der Praxis auch sogenannte „Kinderschutzbeauftragte“ eingesetzt. 53

Ist die Sicherheit gewährleistet, beginnt die Arbeit mit der gesamten Familie.

Wer sollte welche Hilfe bekommen?

Wichtig ist zunächst, dass alle Familienmitglieder Hilfe brauchen und die gesamte Familie bei der Hilfe im Fokus stehen sollte: das von den Übergriffen betroffene Kind, das sexualisiert-übergriffige Geschwister, nicht-direkt betroffene Geschwister (die oft übersehen werden) und Eltern/Elternteile (die auch oft übersehen werden). Führende Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Ländern sind sich einig, dass familienbezogene, traumasensible, empathische, nicht-verurteilende, ressourcenbasierte Interventionen empfehlenswert sind. In vielen Fachveröffentlichungen wird der Ansatz einer „restorative justice“, also einer wiederherstellenden Gerechtigkeit, empfohlen. 54 Dies bedeutet, dass anstelle von rein repressiven Maßnahmen wie Bestrafungen der „Täter:innen“ der Schwerpunkt darauf liegt, die Auswirkungen der sexualisierten Gewalt auf die Betroffenen, die Familie und die Gemeinschaft anzuerkennen und zu adressieren. Es wird im gemeinsamen Austausch aller Beteiligten nach Lösungen gesucht. Dabei liegt der Fokus auf der Wiederherstellung positiver sozialer Beziehungen.

Die Hilfe sollte sich aus einer Hilfe für die gesamte Familie und individuellen Hilfen – je nach Bedarf – für die einzelnen Familienmitglieder zusammensetzen. Systemisch-therapeutische Konzepte wie zum Beispiel die aufsuchende Familientherapie sind erfolgsversprechend – sollten aber eben zusätzlich durch individuelle Hilfen ergänzt werden.

Die „systemische Mehrspurenhilfe“ 55, bei der jedes Familienmitglied eine:n eigene:n Berater:in/Therapeut/in zur Seite gestellt bekommt, wird dem komplexen Hilfebedarf gerecht. Dieses Konzept wird bislang jedoch nur vereinzelt in Deutschland umgesetzt. In anderen Regionen erhalten Familien in ähnlicher Form Hilfe, indem das betroffene Kind, eine auf das Thema „sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend“ spezialisierte Fachberatungsstelle aufsucht und beispielsweise bei Bedarf zusätzlich eine (Trauma-)Therapie erhält und das sexualisiert-übergriffige Kind, an einem spezialisierten Angebot für sexualisiert-übergriffige junge Menschen teilnimmt. Die Elternarbeit ist (im Idealfall) klar geregelt und an eins dieser Angebote fest angebunden. Empfehlenswert ist, dass sich die therapeutische Begleitung aus Einzelsitzungen und Familien- und Geschwistereinheiten zusammensetzt.

Nachfolgend ein genauerer Blick auf die Hilfeangebote:

Angebote für von sexualisierter Gewalt betroffene Mädchen, Jungen

„Die Vergangenheit bestimmt niemals die Wirkung der Gegenwart. Die Gestaltung der Gegenwart bestimmt die Wirkung von Vergangenheiten und Zukünften!“ (Gunther Schmidt)

Fachberatungsstellen, die auf das Thema „sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend“ spezialisiert sind, halten eine besondere Expertise zu diesem komplexen Themenfeld bereit. Daher empfiehlt es sich, Kontakt zu einer solchen Fachberatungsstelle aufzunehmen, auch bereits bei der Verdachtsabklärung. Leider sind solche Fachberatungsstellen nicht flächendeckend in Deutschland verteilt. Beim Hilfeportal sexueller Kindesmissbrauch können geeignete Fachberatungsstellen gesucht werden, siehe https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/hilfe-finden oder aber es kann telefonisch beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/hilfe-telefon nachgefragt werden. Männliche Betroffene können sich auch hier erkundigen: https://www.tauwetter.de/de/anlaufstelle/adressen.html

Zudem bieten niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater:innen und Kinder- und Jugendpsychotherapeut:innen therapeutische Hilfen an. In den Fällen, in denen eine Traumafolgestörung (Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS) vorliegt, empfiehlt sich gezielt eine Traumatherapie.

Viele Betroffene müssen mit langen Wartezeiten rechnen, wenn sie einen Therapieplatz suchen. Lange Wartezeiten können dazu führen, dass sich Belastungen zuspitzen. Es ist wichtig zu wissen, dass es einen Rechtsanspruch auf eine psychotherapeutische Akutbehandlung zur Krisenintervention gibt. Für diese Akutbehandlung bei niedergelassenen Psychotherapeut:innen ist keine vorherige Genehmigung durch die Krankenkasse erforderlich. Zudem werden Patient:innen auch notfallmäßig stationär in Psychiatrien aufgenommen, wenn eine Selbst- oder Fremdgefährdung besteht oder die Schwere des Krankheitsbildes einen unmittelbaren Beginn einer stationären Behandlung erforderlich macht.

Angebote für junge Menschen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen

Anstatt junge Menschen als „Sexualstraftäter von morgen“ zu labeln und sich in Ängsten bezüglich ihrer Entwicklung zu verlieren, ist es wichtig, ihr Verhalten und die Motive dafür in den Blick zu nehmen. Sexualisierte Gewalt ist ein Verhalten, mithilfe dessen bestimmte dahinterliegende Bedürfnisse erfüllt werden. Verhalten kann verändert werden. Das Gehirn ist besonders im Kindes- und Jugendalter plastisch und kann sich schnell an neue Erfahrungen anpassen. Das ist eine große Chance für Beratung & Therapie. Junge Menschen haben sehr gute Chancen, eine gesunde Sexualität, die Grenzen anderer Menschen achtet, und gesunde interpersonale Beziehungen zu entwickeln. Sie können lernen, eigene Bedürfnisse zu erfüllen, ohne anderen dabei zu schaden.
Brad Watts beruft sich auf Studien, die zeigen, dass junge Menschen, die an Programmen oder Therapien für sexualisiert-übergriffige junge Menschen teilnehmen, zu einer Rate von 95-98% nicht rückfällig werden. Allerdings ist zu beachten, dass im Gegensatz zu den USA, bestehende Angebote in Deutschland bislang nur sehr bedingt wissenschaftlich ausgewertet wurden.

Für die Arbeit mit den jungen Menschen, die bereits sexualisiert-übergriffiges Verhalten gezeigt haben, ist es zunächst wichtig, überhaupt erstmal ein vertrauensvolles Arbeitsbündnis herzustellen, damit die jungen Menschen einen Raum zum Reden und Sich-Öffnen finden. Dazu gehört auch, die jungen Menschen nicht komplett als Person zu verurteilen, sondern zwischen den Handlungen und der Person zu unterscheiden. Die Handlungen sind zu verurteilen, die Person/der junge Mensch hingegen nicht. Die Kinder und Jugendlichen bringen neben den sexuell auffälligen Verhaltensweisen auch oft viele andere Themen mit, die gemeinsam in den Blick genommen werden müssen, wie zum Beispiel: unverarbeitete Traumata, schlechter Zugang zu eigenen Emotionen/problematischer Umgang damit, stereotype Vorstellungen von Männlichkeit, Wunsch nach Beziehungen/Sexualität bei eingeschränkten sozialen r Kompetenzen. Daher braucht die Arbeit mit den jungen Menschen besonders eins: viel Zeit.

In der Arbeit mit sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen erfolgt zunächst eine Diagnostik, um die Hilfebedarfe zu ermitteln und eine Risikoeinschätzung vorzunehmen. Ebenso geht es zu Beginn darum, das Rückfallrisiko einzuschätzen. Im Rahmen der Diagnostik wird über die sexualisiert-übergriffigen Handlungen gesprochen, es kommen testdiagnostische Verfahren (z.B. ASAP, HAWIK) und Instrumente zur Risikoeinschätzung (z.B. ERASOR, AIM2) zum Einsatz und die Biografie (Lebensgeschichte) wird aufgegriffen (z.B. mithilfe eines Genogramms, Zeitstrahls). Bei Bedarf erfolgt anschließend eine Therapie, meistens in Form einer Einzeltherapie. Hierbei sollten Prinzipien einer „opfergerechten Täterarbeit“ bedacht werden, was bedeutet, dass das Leid der Opfer und das Ernstnehmen der Folgen ein wesentlicher Bestandteil der Therapie ist. Themen der Therapie (häufig kognitive Verhaltenstherapie) sind zum Beispiel: die Voraussetzungen sexualisierter Gewalt nach David Finkelhor, der individuelle Missbrauchszyklus, die Schritte zur Rückfallvermeidung und die Wahrnehmung eigenen Leides und eigener Opfererfahrungen. Diesbezüglich muss auch geprüft werden, inwiefern ein Bedarf an Traumatherapie besteht. Weitere Themen in der Arbeit mit den jungen Menschen sind die Entwicklung von Empathie für das betroffene Kind und die Verantwortungsübernahme. Besonders die Verantwortungsübernahme gilt als zentrales Charakteristikum einer erfolgreichen Therapie. Die jungen Menschen müssen lernen, sich kritisch mit ihrem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen und die Verantwortung dafür zu tragen. Wird die Verantwortung nicht klar benannt, dann wird sie immer auch auf andere Familienmitglieder verschoben.

Neben diesen deliktzentrierten Themen steht im Rahmen der Therapie die Reifung und Entwicklung des jungen Menschen im Vordergrund: die Verbesserung seiner Beziehungen zu Eltern/Bezugspersonen und zu seinem Umfeld, die Förderung seiner psychosozialen Kompetenzen und die Entwicklung einer gesunden Sexualität. Dabei reicht es nicht aus, den jungen Menschen nur zu sagen, was sie nicht dürfen, sondern sie müssen eine Idee davon bekommen, was gesunde sexuelle Kontakte sind – sexuelle Bildung ist sehr wichtig. Zudem ist auch die Entwicklung von Medienkompetenz und ein kritischer Umgang mit Pornographie entscheidend.

Neuere Therapieansätze fokussieren auf den Opferschutz, helfen den jungen Menschen aber auch zugleich, eigene Stärken zu entfalten. Das Good Lives Model, ein ressourcenorientiertes Behandlungsprogramm, formuliert menschliche Bedürfnisse aus: Spaß haben, persönliche etwas leisten/erreichen, Individualität, Verbundenheit zu anderen, einen Sinn im Leben haben, emotionale Bedürfnisse erfüllen, sexuelle Bedürfnisse befriedigen und körperliche Gesundheit. 58 Wenn diese Bedürfnisse erfüllt sind, werden junge Menschen kein sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen. Daher gilt es in der Therapie gemeinsam zu erarbeiten, welche dieser Bedürfnisse auf welche Art und Weise erfüllt werden können.

Ambulante und stationäre Hilfen für sexualisiert übergriffige Kinder und Jugendliche werden in Deutschland primär von der Kinder- und Jugendhilfe (Hilfen zur Erziehung), also über das SGB VIII, bereitgestellt. Das Jugendamt ist für die Planung solcher Hilfen zuständig. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine entsprechende Versorgungslandschaft mit spezialisierten Angeboten entwickelt.

Eine Zusammenstellung der Angebote findet man im Internet hier:

  • Homepage der DGfPI – Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung e. V.; Menüpunkt „Hilfe finden“; https://dgfpi.de/hilfeseite/
  • Homepage der BAGKJSGV – Bundesarbeitsgemeinschaft „Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit sexualisiert grenzverletzendem Verhalten e. V.“; Menüpunkt „Freiplatzmeldungen“, https://www.bag-kjsgv.de/freiplatzmeldungen.html

Die Mehrheit der Einrichtungen ist auf die Arbeit mit männlichen Kindern und Jugendlichen ausgerichtet. Etwa ein Drittel der Einrichtungen arbeitet auch mit Mädchen. In Deutschland gibt es bis dato eine stationäre Wohngruppe für Mädchen, die sexualisierte Gewalt begehen. Infolge des hohen Bedarfs wurden auch gezielte Angebote für lernbehinderte und intelligenzgeminderte Kinder und Jugendliche konzipiert, die mittlerweile ihren festen Platz in der Versorgungslandschaft haben.

Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Übergriffe begehen, werden neben der Jugendhilfe auch in Kinder- und Jugendpsychiatrien, von niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater:innen und Kinder- und Jugendpsychotherapeut:innen behandelt.

Bis heute gibt es in Deutschland einen großen Mangel an Einrichtungen, die mit sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen arbeiten. Viele junge Menschen, die sexualisiert Gewalt ausüben, bleiben unversorgt. Bestehende Angebote beklagen oft monatelange Wartezeiten. Viele Eltern, die sich auf der Suche nach Hilfe bei mir melden, sind verzweifelt, weil es in ihrer Region entweder gar keine Angebote gibt oder diese, falls es sie gibt, völlig überlaufen sind. Es hängt in Deutschland sehr stark vom Wohnort ab, ob spezialisierte Hilfe verfügbar ist und in welcher Form diese angeboten wird (ambulant oder stationär). Die seit vielen Jahren geforderte finanzielle Absicherung und der Ausbau ambulanter und stationärer Angebote für sexualisiert-übergriffige junge Menschen blieben bislang aus (u.a. auch gefordert vom „Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich)“ 59 . Hier besteht dringender Handlungsbedarf, denn die professionelle Arbeit mit sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen leistet u.a. auch einen großen Beitrag zur Prävention sexualisierter Gewalt, wie die nachfolgende Geschichte verdeutlicht, die auf den Therapeuten Ruud Bullens zurückgehen soll:

„Menschen stehen an dem Ufer eines Flusses und bemerken, dass ein Kind im Wasser treibt und zu ertrinken droht. Sie springen ins Wasser, greifen das Kind, bringen es erschöpft an Land. Da sehen sie plötzlich ein zweites Kind in den Fluten treiben und stützen sich erneut in den Fluss. Einige HelferInnen versuchen, den Kindern schnell das Schwimmen beizubringen, aber dafür reicht die Zeit nicht und es treiben immer mehr Kinder im Fluss. Die RetterInnen schauen flussaufwärts und stellen fest, dass dort eine Person auf einer Brücke steht und die Kinder ins Wasser wirft.“ 60

Die Arbeit mit den jungen Menschen ist also wichtig, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Diverse Studien haben gezeigt, dass junge Menschen für einen großen Anteil sexualisierter Gewalt verantwortlich sind. Wünschenswert wäre, wenn die Öffentlichkeit auch für dieses Thema sensibilisiert wird. Studienergebnisse zeigen, dass sich mittlerweile zwar viele Menschen vorstellen können, Betroffene sexualisierter Gewalt zu kennen – Menschen, die sexualisierte Gewalt ausüben, zu kennen, können sich hingegen nur wenige Menschen vorstellen. Dieser Gedanke wird schnell weggeschoben. Zudem wären niederschwellige Zugänge zu Hilfen wichtig, um die jungen Menschen direkt zu erreichen. An wen soll sich ein junger Mensch wenden, der merkt, dass er andere mit seinem sexuellen Verhalten schädigt? Hier sollten in der Lebenswelt der Mädchen und Jungen mehr Angebote bereitgestellt werden, zum Beispiel Poster oder Flyer in der Schule; Internetseiten, mit Möglichkeiten zur direkten Kontaktaufnahme per Telefon, Mail, Chat usw. Junge Menschen sollten viel stärker als bisher im Fokus der Prävention stehen. In anderen Ländern wird bereits deutlich proaktiver zu dem Thema gearbeitet, auch indem beispielsweise im Rahmen der Prävention Workshops in Schulen zum Thema Männlichkeit/Sexuelle Bildung angeboten werden. Mädchen und Jungen sollten sexualpädagogisch begleitet werden. An Themen wie: Einvernehmlichkeit in Beziehungen und sexuellen Kontakten, Dating- und Beziehungserwartungen, Umgang mit Pornographie, Geschlechternormen, individuelle Neigungen, Empathie und andere soziale Kompetenzen sollte mit den Mädchen und Jungen gearbeitet werden. Die Förderung einer gesunden emotionalen und sexuellen Entwicklung junger Menschen muss stärker in den Blick genommen werden.

Abschließend noch der Hinweis auf weitere Angebote für Jugendliche bzw. für Erwachsene:

Eine Liste von Einrichtungen, die mit erwachsenen Sexualstraftäter:innen arbeiten, ist hier zu finden:
https://dgfpi.de/wp-content/uploads/2024/05/2024-05-21_Liste_von_Einrichtungen_die_mit_erwachsenen_Sexualstraftaetern_arbeiten.pdf

Beratungsangebot für Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen:
https://www.kein-taeter-werden.de/
https://du-traeumst-von-ihnen.charite.de/

Elternarbeit ist besonders wichtig

Eltern dürfen im Hilfeprozess nicht übersehen werden – das werden sie jedoch oft. Studien zeigen, dass sich Eltern im Hilfeprozess oft alleingelassen und überfordert fühlen. Es sollte klar geregelt werden, welche Einrichtung in welcher Form mit den Eltern arbeitet. Elternarbeit ist wichtig, weil die Eltern oft ein familiäres Klima schaffen, das den Nährboden für sexualisierte Gewalt bereitstellt. Zudem brauchen auch Eltern Hilfe, um mit den Belastungen umzugehen, denn auch sie können im weiteren Verständnis als Betroffene der sexualisierten Gewalt verstanden werden – auch sie leiden unter den Folgen. Auch für sie kann die sexualisierte Gewalt ein Trauma darstellen (Sekundärtraumatisierung) oder selbst erlebte Traumata durch sexualisierte Gewalt reaktivieren. Das Erleben von Gefühlen wie Angst, Trauer, Verzweiflung, Wut, und Hilflosigkeit belastet viele Eltern massiv. Darüber hinaus hängen die Behandlungserfolge in Beratung und Therapie sehr stark vom Verhalten der Eltern ab. Die Heilung der Betroffenen kann besser gelingen, wenn Eltern unterstützend sind und positive Bewältigungsstrategien entwickeln. Auch im Sinne der Prävention ist Elternarbeit unumgänglich. Einer der erfolgversprechendsten Präventionsansätze besteht darin, die Eltern dabei zu unterstützen, positive Erwachsenen-Kind-Beziehungen und Geschwister-Interaktionen zu fördern und eine schützende Umgebung für beide (bzw. alle) Kinder bereitzustellen. Zu bedenken ist, dass die Eltern oft auch noch Eltern weiterer Kinder sind.

Eine Offenlegung sexualisierten Gewalt hat immer weitreichende Folgen für das gesamte Familiensystem. Es wird danach nichts mehr so sein, wie vorher und es gilt mit einer „neuen Normalität“ in der Familie leben zu lernen. Eltern müssen darin unterstützt werden, dem betroffenen Kind zu glauben, beiden Kindern (emotionale) Unterstützung anzubieten, ihre Schutzfunktion wahrzunehmen (auch, indem sie den Kontakt der Kinder zunächst unterbinden) und professionelle Hilfe für sich und ihre Kinder zu suchen/begleitend in Anspruch zu nehmen.

Oft stehen folgende Themen im Fokus, wenn mit Eltern sexuell-grenzverletzender Kinder (im Allgemeinen, nicht nur in Bezug auf sexualisierte Übergriffe durch Geschwister) gearbeitet wird : 61

  • Entwicklung einer positiven Beziehung zum Kind (Erweiterung der Eltern-Kind-Kommunikation; angemessene Reaktion auf Verhaltensprobleme) und Herstellung einer angemessenen körperlichen Nähe zum Kind.
  • Informationen über sexuelle Entwicklung, normales sexuelles Spiel und über die Abgrenzung zu problematischem sexuellen Verhalten
  • Information über Sexualerziehung und Vermittlung von Strategien, wie in angemessener Form mit Kindern über sexuelle Themen gesprochen werden kann (und wie ihnen zugehört werden soll).
  • Sensibilisierung für diejenigen Faktoren, die mit dem sexuell auffälligen Verhalten in Zusammenhang stehen könnten (z.B. Zugang zu sexualisierten Materialien, sexueller Missbrauch, Trauma),
  • Vermittlung adäquater Reaktionen auf sexuelle Verhaltensmanifestationen,
  • Entwicklung neuer Familienregeln und veränderter Interaktionsmuster,
  • Strategien zur Verhinderung sexueller Übergriffe (Entwicklung/Verankerung eines Sicherheitsplans: Beaufsichtigungs- und Kontrollplan v.a. in Bezug auf Interaktion mit anderen Kindern, Kommunikation über Beaufsichtigungserfordernisse mit anderen Erwachsenen, die mit dem Kind zu tun haben; Unterstützung der Kinder bei der Anwendung von Strategien zur Selbstkontrolle)
  • Vermittlung von Strategien zur Integration des Kindes in positive Peer-Gruppen.

In Bezug auf sexualisierte Gewalt durch Geschwister stellen Yates & Allardyce folgende Inhalte zusammen 62:

  • Identifikation der Stärken und Bedürfnisse der Familie
  • Bearbeitung früherer und/oder aktueller Traumata der Eltern
  • Stärkung der Offenheit und emotionalen Ausdrucksfähigkeit innerhalb der Familie
  • Klärung, Festigung oder Wiederherstellung angemessener Rollen von Eltern und Kindern
  • Erkennen und Unterbrechen missbräuchlicher Muster innerhalb der Familie
  • Stärkung der elterlichen Fähigkeiten und des Vertrauens, selbst verantwortungsbewusstes Verhalten innerhalb der Familie zu fördern – auch im Umgang mit Konflikten
  • Verbesserung der Schutzfunktion der Eltern, insbesondere in Bezug auf die Festlegung von Grenzen
  • Unterstützung der Eltern bei der Strukturierung der Zeit und der sozialen Aktivitäten der Kinder
  • Unterstützung der Eltern bei der Neu-Verhandlung familiärer Beziehungen in Situationen, in denen ein Kind fremduntergebracht ist: Klärung, Aufrechterhaltung und Verbesserung – die Familie als Quelle kontinuierlicher Unterstützung

Kooperation?!

Die psychosoziale Begleitung von jungen Menschen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten erfahren mussten oder ein solches Verhalten gezeigt haben und deren Eltern und weiteren Geschwistern, erfordert eine enge und gut-aufeinander-abgestimmte Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen (multiprofessionelles Setting), mit (sozial-)pädagogischer und psychotherapeutischer Expertise. Oft scheitern Hilfeprozesse an der fehlenden oder ungenügenden Kooperation.

Ursula Mathyl und Uta Schneider von der Fachberatungsstelle „Violetta“ – für missbrauchte Mädchen und junge Frauen haben in einer Checkliste zentrale Aspekte für eine gelingende Kooperation zusammengefasst: 63

50 Jud, A. (2024). Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen. In: Rimane, E. & Kolpin, A. (Hrsg.) Quantitative Dunkelfeldbefragung vulnerabler Gruppen. Arbeitspapier Deutsches Jugendinstitut.
51 Queensland Government. Decide whether the child with harmful sexual behaviours can remain at home. https://cspm.csyw.qld.gov.au/practice-kits/child-sexual-abuse/working-with-children-who-display-sexually-reactiv/responding/decide-whether-the-child-with-sexually-reactive-be#Safety_indicators
52 Yates, P. & Allardyce, S. (2021). Sibling sexual abuse. A knowledge and practice overview. Centre of expertise on child sexual abuse. https://www.csacentre.org.uk/app/uploads/2023/09/Sibling-sexual-abuse-report.pdf
53 Pröls-Geiger, C. & Maier, H. (2020). Sexualisierte Gewalt in der Familie – Herausforderungen für die Gestaltung von Kooperationsprozessen. In K. Burmester & Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren (Hrsg.), Sexuelle Gewalt an Kindern in familiären Lebenswelten. Zugänge und Hilfen. Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e.V.
54 King.Hill, S., McCartan, K., Gilsenan, A., Adams, A. & Beavis, J. (2023). Understanding and Responding to Sibling Sexual Abuse (Series: Palgrave Studies in Risk, Crime and Society). Palgrave Macmillan.
55 Bormann, M. (2018). „Jetzt ist aber auch mal gut.“ Der Wunsch nach Heilung und Abschluss. In E., Klees & T. Kettritz (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. Praxishandbuch für die pädagogische und psychologisch-psychiatrische Arbeit mit sexualisiert übergriffigen Kindern/Jugendlichen (S. 305-318). Pabst.
56 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. ‎ Independently published. S. 38.
57 Handbuch der Beratungsstelle Neue Wege des Caritasverbandes für Bochum und Wattenscheid e.V. www.neuewege-caritas-bochum.de
58 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. ‎ Independently published. S. 136
59 BMJ – Bundesministerium für Justiz, BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend & BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (2011). Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich. Abschlussbericht. Bundesministerium für Bildung und Forschung. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93204/2a2c26eb1dd477abc63a6025bb1b24b9/abschlussbericht-runder-tisch-sexueller-kindesmissbrauch-data.pdf
60 Klees, E./Kettritz, T. (2018): Einleitung. In: Klees, E./Kettritz, T. (Hrsgb.). Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. Praxishandbuch für die pädagogische und psychologisch-psychiatrische Arbeit mit sexualisiert übergriffigen Kindern und Jugendlichen. Lengerich, Pabst.
61 Mosser, P. (2012). Sexuell grenzverletzende Kinder – Praxisansätze und ihre empirischen Grundlagen.
Praxisansätze und ihre empirischen Grundlagen. Eine Expertise für das Informationszentrum Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung (IzKK).https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/izkk/IzKK_Mosser_Expertise.pdf
62 Yates, P. & Allardyce, S. (2021). Sibling sexual abuse: A knowledge and practice overview. Centre of expertise on child sexual abuse. https://www.csacentre.org.uk/app/uploads/2023/09/Sibling-sexual-abuse-report.pdf
63 Mathyl, U. & Schneider, U. (Fachberatungsstelle Violetta e.V.) (2017). Sexuelle Übergriffe unter Geschwistern, Sexualisierte Gewalt unter Geschwistern, Sexueller Missbrauch unter Geschwistern, Geschwisterinzest. Eine Arbeitshilfe für soziale Fachkräfte. 2. Überarbeitete Auflage. S.33. https://www.violetta-hannover.de/sites/violettahannover/files/aktuelles-download/Geschwister_Arbeitshilfe.pdf